Alte Zeiten kommen nicht wieder
Vielleicht hat der Alarmruf von VW einen positiven Aspekt: Politik und Gesellschaft haben schlagartig erkannt, dass sich das deutsche Geschäftsmodell neu erfinden muss. Nullwachstum, Stellenabbau, Strukturwandel, hohe Energiepreise, dazu eine marode Verkehrsinfrastruktur, hohe Arbeitskosten und zunehmender Arbeitskräftemangel. Keines dieser Probleme ist neu, viele Stimmen aus Wirtschaft und Verbänden – so auch der VAA – haben immer wieder auf die Bedrohungen hingewiesen, denen der Standort Deutschland und seine Unternehmen ausgesetzt sind. Doch erst der geplante Stellenabbau bei VW zeigt, wie tief die Melange von Transformation, politisch erzeugter Unsicherheit, Standortnachteilen und Konkurrenz aus China ist, die am Fundament der deutschen Industrie nagt und Hunderttausende Beschäftigte unruhiger schlafen lässt.
Allein der Name „Volkswagen“ trägt eine Botschaft. Wir alle sind betroffen. Wir erkennen aufgeschreckt, dass Deutschland ein immer noch reiches, aber schwerfällig gewordenes Land ist. Die Chinesen kommen mit wettbewerbsfähigen E-Autos zu konkurrenzlosen Preisen und verfügen über eine scheinbar uneinholbare Position in der Batterietechnik. Große Zulieferer wie Bosch, Continental und ZF streichen bereits Tausende Arbeitsplätze.
Es scheint sich in der Automobilindustrie das zu wiederholen, was die deutsche Solar- und Windindustrie schon hinter sich und die deutsche Stahl- und Chemiebranche noch vor sich hat. Das zeigen die Krisen bei Thyssenkrupp und der BASF. Das alte deutsche Geschäftsmodell mit preiswerter Energie aus Russland und großen Exportmöglichkeiten in China ist an sein Ende gekommen. BASF-Chef Martin Brudermüller hat es treffend formuliert: „Die alten Zeiten kommen nicht wieder.“ Immerhin zeigt diese Aussage auch überdeutlich, dass Problem und Lage erkannt sind. Dass Politik und Gesellschaft reagieren können. Bisher sind die Antworten auf die Herausforderungen aber noch zu zaghaft.
Wie ausgeprägt die Krise der Chemiebranche ist, zeigen die Zahlen. Der Gesamtumsatz der Chemie- und Pharmaindustrie ist saisonbereinigt gegenüber dem Vorquartal um 0,7 Prozent auf insgesamt 53,8 Milliarden Euro zurückgegangen. Das Vorjahresniveau wurde ebenfalls leicht verfehlt. Die Produktion ist im Vergleich zum Vorquartal zwar um 0,8 Prozent gestiegen. Allerdings sind die Kapazitäten der Branche mit zuletzt 75,1 Prozent weiterhin nicht rentabel ausgelastet.
Immerhin scheint die Bundesregierung die Lage der Chemieindustrie verstanden zu haben. Auf der Bühne des Chemie- und Pharmagipfels stellte Bundeskanzler Scholz einen Fünf-Punkte-Plan vor, mit dem der Branche geholfen werden soll. Er lehnte ein Totalverbot von PFAS ab, versprach den Abbau von bürokratischer Hürden, will die Konzentration auf die Kreislaufwirtschaft und die MINT-Fächer – ein Kernanliegen des VAA – verstärken und die Strompreiskompensation bis 2030 verlängern. Außerdem strebe die Bundesregierung eine „beihilfekonforme Verlängerung“ der Regelungen der Stromnetz-Entgelt-Verordnung an.
Das sind positive Signale und sie zeigen neuen Mut. Werden sie unsere Branche in eine freundlichere Zukunft tragen? Als Angela Merkel auf die Herausforderungen in der Migrationsfrage „Wir schaffen das!“ sagte, war der Optimismus zunächst groß. Er ist einer realistischeren Betrachtungsweise gewichen. Heute blicken wir mit ähnlichem Realismus auf die Lage der Industrie und der Chemie. Dieser Realismus ist Voraussetzung für Veränderung. Es ist und bleibt meine tiefe Überzeugung, dass wir es schaffen können. Leicht wird das nicht. Die Aufgabe für uns Fach- und Führungskräfte, die Kolleginnen und Kollegen sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf diesem Weg des Wandels mitzunehmen, wird gigantisch sein. Dem VAA geht die Arbeit nicht aus.
Dr. Birgit Schwab
1. Vorsitzende des VAA