Mut als Schlüssel zur Erneuerung
In Deutschland haben wir uns mittlerweile an schlechte Nachrichten aus der Wirtschaft gewöhnt: Chemische Industrie in Schwierigkeiten, exorbitante Energiepreise, überbordende Bürokratie und eine katastrophale Infrastruktur sind die jedem geläufigen Stichworte.
Gewöhnt haben wir uns wohl auch daran, dass demokratische Politik immer mehr Mühe zu haben scheint, die genannten Schwierigkeiten offen zu adressieren und kraftvoll Lösungen voranzutreiben. Das würde nämlich bedeuten, mit Mut Dinge anzupacken, die nicht allen gefallen. Aber nur so können Aufbruch und Veränderung gelingen. Es mutet beinahe seltsam an: Das letzte Mal, als Deutschland seine Rolle als „kranker Mann Europas“ abstreifte, gelang dies unter dem sozialdemokratischen Kanzler Gerhard Schröder. Nun sind die Probleme längst zurück.
Ist denn alles grau, trist und trüb in der deutschen Wirtschaft und Gesellschaft? Nein. Der zurzeit noch lähmenden Stimmung in der Politik stehen auch ein paar hoffnungsvolle Entwicklungen in der Wirtschaft gegenüber. Die Unternehmen forschen und entwickeln. Letztes Jahr gab es 40.000 Patentanmeldungen und damit noch einmal vier Prozent mehr als im Jahr davor. 1.500 Start-ups wurden im ersten Halbjahr gegründet, eine Steigerung um neun Prozent. Die Stimmung in den Unternehmen ist besser als noch vor sieben Monaten.
Auch aus der Politik gibt es positive Signale. Die Bundesregierung hat vier wichtige Vorhaben entschieden: Die Stromsteuersenkung, die Reduzierung der Stromnetzentgelte, die Umsetzung der EU-Richtlinie zur Nachhaltigkeitsberichterstattung sowie die Änderung des Lieferkettengesetzes sind auf den Weg gebracht. Das sind gute Schritte in die richtige Richtung. Weitere müssen folgen. So zum Beispiel die Einführung eines wirksamen Industriestrompreises für unsere Branche, die Verbesserung der Kosteneffizienz beim Netzausbau und ein kostenkritischer Blick auf den Zubau der Erneuerbaren.
Insgesamt erwarte ich von der Bundesregierung, dass sie in Zukunft mehr Mut aufbringt, die Dinge anzupacken, die nur vermeintlich unpopulär erscheinen. Das betrifft die Reform der Sozialversicherungssysteme. Beispiel Rente: Jeder weiß: Das gesetzliche System muss stabilisiert werden. Trotzdem werden Forderungen nach einem höheren Rentenalter aus Angst vor der vermeintlichen Wut der Wähler abgebügelt. Das führt nur dazu, dass die Probleme am Ende größer werden. Zusätzlich stärkt eine mutlose Politik die politischen Extreme. Erfreulicherweise hat Bundeskanzler Friedrich Merz zu Beginn der Sommerpause die Deutschen auf beherzte Reformen im zweiten Halbjahr eingestimmt. Er kündigte in seiner Pressekonferenz im Juli einen „wirklichen Wechsel der Sozialpolitik“ an. Wird er seinen Worten Taten folgen lassen?
Die deutsche Politik und Wirtschaft zeigen in diesem Herbst ein gemischtes Bild. Zum einen gibt es viele Missverständnisse zwischen CDU und SPD, die einen nötigen Politikwechsel aufzuhalten scheinen. Zum anderen dominieren die Untergangserzählungen, die vor allem von den Parteien der extremen Linken und Rechten transportiert werden, die mediale Berichterstattung. Es gibt aber auch die oben aufgeführten positiven Signale aus Politik und Wirtschaft. Konrad Adenauer sagte einmal, das Wichtigste sei der Mut. Wünschen wir uns den bei der Erfüllung unserer Führungsaufgaben in unseren Unternehmen. Und wünschen wir ihn vor allem den Verantwortlichen der Politik.
Dr. Birgit Schwab
1. Vorsitzende des VAA
