Europa vor der Wahl
Die Europawahl 2024 steht im Schatten geopolitischer Düsternis. Russlands Krieg gegen die Ukraine und die Schatten der amerikanischen Präsidentschaftswahl im November auf Europa zeigen die außenpolitischen Herausforderungen, vor denen die Mitgliedstaaten der EU stehen. Sie müssen sich ernsthaft mit der strategischen Autonomie befassen, von deren Verwirklichung sie noch weit entfernt sind.
Der politische Kraftakt für alle Regierungen wird darin bestehen, vor allem den jüngeren Menschen in Europa zu erklären, wie eine Niederlage, sei sie militärisch oder politisch, für ihr Leben im Schatten eines möglichen russischen Diktatfriedens aussehen kann. Noch liegt eine Gedankenlosigkeit über den jungen Generationen in Europa, die sich wohl nicht richtig vorstellen kann, wie es wäre, Freiheit nicht zu haben. Wir sollten die Jugend, aber ganz besonders auch die Fach- und Führungskräfte daran erinnern, dass es im Bereich der Macht einige ewige Wahrheiten gibt: „Wenn du den Frieden willst, bereite den Krieg vor“ ist eine davon. Diese Gedankenlosigkeit hat auch innenpolitisch Konsequenzen. Sie führt zu einem Erstarken der rechtsextremen Parteien in fast allen Ländern der EU. Können Rechtspopulisten und Rechtsextreme nach der kommenden Europawahl im Juni 2024 zur führenden politischen Kraft in Europa werden? „An uns kommt im nächsten Europaparlament niemand mehr vorbei!“, hieß es vollmundig beim Europa-Parteitag der AfD in Magdeburg.
In der Tat schwimmt die Partei auf einer Erfolgswelle. Auch in anderen EU-Mitgliedstaaten fahren rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien Erfolge ein. In Schweden und Finnland sind sie Juniorpartner in der Regierung mit Christdemokraten, in Italien stellen die postfaschistischen Fratelli d'Italia mit Giorgia Meloni an der Spitze sogar die Regierungschefin. In den Niederlanden gingen die Rechtspopulisten um Geert Wilders als stärkste Kraft aus den Parlamentswahlen hervor. Es scheint zu einer dramatischen Ausbreitung antidemokratischer Einstellungen in der Mitte der europäischen Gesellschaften zu kommen.
Das wäre eine Entwicklung, deren Konsequenzen nicht nur die Erfolgsgeschichte der friedlichen europäischen Integration grundsätzlich infrage stellt. Stehen sich doch jetzt schon der französische Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen und die deutsche AfD feindselig gegenüber. Man mag sich nicht ausmalen, welches Konfliktpotenzial zum Tragen käme, würden diese Parteien in einem Europa abgeschotteter Nationalstaaten in Regierungsverantwortung kommen.
So weit ist es noch nicht und so weit muss es auch nicht kommen. Vor allem dann nicht, wenn die noch immer große Familie der demokratischen Parteien auf die innere Bedrohung durch die Rechtsextremen hinweist. Diese stellen Rechtsstaat und Demokratie infrage, greifen die Unabhängigkeit von Justiz und Medien an und schrecken auch vor einem Eingriff in persönliche Freiheitsrechte nicht zurück, wenn sie von Deportationsplänen oder Remigration sprechen. Dass es zu diesem Anwachsen der extremen Parteien gekommen ist, hat viele Gründe. Geopolitische Veränderungen wie Krieg, Krisen und Migration haben Auswirkungen auf innenpolitische Stimmungen. Zeiten des Umbruchs und Übergangs sind herausfordernd und verängstigen die Bevölkerungen. Unsere Zivilgesellschaften erleben eine Krise, deren Intensität die der vergangenen Jahrzehnte übertrifft. Michael Vassiliadis von der IG BCE sagte kürzlich, der Gesellschaft sei der Spirit verloren gegangen. Der Sinn dafür, wofür die Industrie eigentlich da sei und welche Bedeutung sie nicht nur für Wohlstand und Arbeitsplätze habe.
Aber in den Gründen, die zur Gedankenlosigkeit im Umgang mit den Herausforderungen geführt haben, liegen auch die Antworten für die Bewältigung. Wir sind gefordert, den Dialog mit der Gesellschaft zu verstärken. Ihn offen und klar zu führen, Verantwortung zu zeigen und Orientierung zu geben. Rechtspopulisten und Rechtsextreme haben keine Lösungen für die Krisen. Im Gegenteil: Ihre Positionen führen zu Polarisierung und Gewalt, nach innen und nach außen. Wir sollten immer wieder darauf verweisen, dass man geopolitische Krisen auch dadurch meistern kann, indem man Initiativen für Handel und Investitionen stärkt und sie von der Politik einfordert.
Der BDI hat in seinen Empfehlungen für die kommende europäische Legislaturperiode zahlreiche Gebiete benannt, auf denen die EU vorankommen kann und muss. Dazu gehören eine neue Balance zwischen Nachhaltigkeitsanforderungen und strategischen Wirtschaftsinteressen, eine größere Geschlossenheit gegenüber Russland und China sowie eine aktivere EU-Nachbarschaftspolitik mit den östlichen Nachbarn. Der systemische Wettbewerb mit China und der Konflikt mit dem kriegerischen Aggressor Russland kann gewonnen werden. Aber nur dann, wenn die Europäer sich einig sind. Und der Sieg der Rechtsextremen in der kommenden Wahl zum Europäischen Parlament steht noch lange nicht fest. Dann nicht, wenn jeder Einzelne von uns sich engagiert.
Stephan Gilow
Hauptgeschäftsführer des VAA