Arbeitszeitkultur: Vertrauen statt Präsenz
Ist der Acht-Stunden-Arbeitstag im Zeitalter der Digitalisierung noch zeitgemäß? Diese Frage hat der Vorsitzende der sogenannten Wirtschaftsweisen Christoph Schmidt in einem Zeitungsinterview aufgeworfen – und seine Antwort gleich mitgeliefert: Er und seine Kollegen aus dem Beratergremium der Bundesregierung in Wirtschaftsfragen halten eine Lockerung des Arbeitszeitgesetzes für erforderlich. Um wettbewerbsfähig zu sein, müssten Firmen in der digitalisierten Arbeitswelt agil sein und ihre Teams schnell zusammenrufen können.
Dieser Diagnose kann man nur schwer widersprechen. Fraglich ist allerdings, ob dafür tatsächlich eine Lockerung des Arbeitszeitgesetzes erforderlich ist. Denn die bestehenden Regelungen ermöglichen bereits viel Flexibilität und sind keineswegs so starr, wie es viele Kritiker darstellen. Bereits heute liegt die zulässige Höchstarbeitszeit nicht bei acht, sondern bei zehn Stunden, die zudem unter bestimmten Voraussetzungen überschritten werden können. Auch die maximale wöchentliche Arbeitszeit von 48 Stunden gilt grundsätzlich nur im Durchschnitt über sechs Monate. Es darf also phasenweise durchaus mehr gearbeitet werden. Und die vorgeschriebene Ruhezeit von elf Stunden kann – wo es notwendig ist – durch tarifliche Reglungen verkürzt werden.
Hinzu kommt, dass die bestehenden Regelungen ohnehin nicht umfassend zur Anwendung kommen: Für bestimmte Arbeitnehmergruppen gelten Ausnahmen, zum Beispiel für leitende Angestellte. Für sie gilt das Arbeitszeitgesetz nicht. Und viele nichtleitende außertarifliche Angestellte arbeiten im Modell der „Vertrauensarbeitszeit“, bestimmen also zumindest in der Theorie weitestgehend selbst, wann sie arbeiten. Das Problem besteht hier in vielen Fällen eher darin, dass Unternehmen ihren Arbeitnehmern dennoch enge Vorgaben machen und die digitalisierte Arbeitswelt als Argument anführen, um von ihren Mitarbeitern noch mehr Flexibilität einzufordern.
Wir brauchen also nicht unbedingt eine Änderung der Gesetze, sondern vielmehr der Arbeitszeitkultur. Der VAA bezieht deshalb zu diesem Thema – wie zu vielen anderen Themen auch – einen klaren Standpunkt: Gelebte Arbeitszeitsouveränität kann es nur mit einer echten Vertrauenskultur geben, in der Mitarbeiter mitentscheiden, wann, wo und wie lange sie arbeiteten. Dafür sind klare Regelungen notwendig. Das Credo lautet: Weg von der Zeit- hin zur Ergebnisorientierung. Nur dann können die mit dem technischen Fortschritt einhergehenden Flexibilitätspotenziale so genutzt werden, dass sowohl für Unternehmen als auch Mitarbeiter Vorteile entstehen.
Gerhard Kronisch, Hauptgeschäftsführer des VAA