Der Brückenstrompreis muss kommen
Der Strom- und Energiemarkt waren, sind und bleiben eminent politisch. Wer dafür Belege sucht, der sollte nach Frankreich schauen. Flapsig formuliert lautet dort das Motto: Ordnungspolitik heißt, dass es für die heimische Industrie „in Ordnung“ ist. Das mag man mögen oder nicht. Aber je geopolitischer die Zeiten, desto weniger scheinen sie „ordnungspolitisch“ zu sein. Bedeutet das den Untergang des marktwirtschaftlichen Abendlands? Natürlich nicht. Aber ein fundamentaler Mentalitätswandel im Hinblick darauf, was Zeitenwende im Bereich der Industriepolitik bedeutet, ist nötig.
Dies gilt insbesondere für unsere Branche. Die ernste Situation der Chemieindustrie ist bis heute nicht im Bewusstsein der Bundespolitik angekommen. Man scheint nicht zu verstehen oder nicht verstehen zu wollen: Es ist nicht nur eine Ursache, sondern ein toxischer Cocktail von verschiedenen Gründen für die Malaise verantwortlich. Dramatisch hohe Energiekosten sind das eine, aber es kommen noch überbordende Regulierung, lange Genehmigungsverfahren und fehlende Fachkräfte hinzu. Dazu kommt dann eine Energiepolitik, welche die Basis der zu Verfügung stehenden Energieerzeugung politisch gewollt verkleinert, statt sie breit aufzustellen.
Nicht nur, aber eben besonders in der Chemie kommt es nun zu sinkenden Umsätzen und niedrigeren Erwartungen. Für die Produktion wird 2023 ein Minus von acht Prozent im Vergleich zum Vorjahr und ein Umsatzrückgang von 14 Prozent prognostiziert. Alle Indikatoren – Produktion, Kapazitätsauslastung, Preise und Umsatz – sind gesunken. Insgesamt fällt Deutschland im Wettbewerb um Investitionen immer weiter zurück.
Um diesen Trend zu drehen, benötigt die chemisch-pharmazeutische Industrie zunächst einen Bewusstseinswandel der Politik. Es geht darum, zu verstehen, dass der Trend zur Deindustrialisierung kein Selbstläufer ist. Mit guter Industriepolitik, die einen Brückenstrompreis, ein Belastungsmoratorium für die Wirtschaft und die Bekämpfung des Fachkräftemangels beinhaltet, kann man ihn aufhalten. Darüber hinaus ist ein Verständnis und ein Bewusstsein für die Abhängigkeit der energieintensiven Industrie von den Energiekosten nötig. Kritiker, die den Wünschen nach einem Industriestrompreis eine Absage erteilen, verkennen die systemrelevante Bedeutung hoher Energiepreise für den Erfolg des Industriestandorts Deutschland insgesamt. Und zu diesem Erfolg trägt die chemisch-pharmazeutische Industrie maßgeblich bei.
Die USA und Frankreich verstehen das. In Frankreich wird Kritik an der staatlich garantierten Unterstützung für niedrige Energiepreise als ein „Überschreiten der roten Linie“ betrachtet. Jeder Regierung, links wie rechts, ist die Bedeutung der Energiekosten für die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts bewusst. Gleiches gilt für die USA. Es wird Zeit, dass auch die deutsche Bundesregierung den Blick auf die internationalen Rahmenbedingungen richtet, in denen sich der Wettbewerb für die deutsche Industrie entscheidet. Und daraus lernt.
Stephan Gilow
Hauptgeschäftsführer des VAA
