Gasversorgung: Herausforderung einer neuen Qualität
Als ich vor einem Jahr die Aufgabe des VAA-Hauptgeschäftsführers übernommen habe, waren die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen bereits besondere: Wir waren im zweiten Jahr der Coronapandemie und auch die bis heute andauernden Lieferkettenprobleme waren bereits an der Tagesordnung. Doch nun steht uns mit dem drohenden Ende der russischen Erdgaslieferungen nach Deutschland und der damit verbundenen Knappheit des Rohstoffs eine neue Herausforderung bevor, die gegenüber den bisherigen Entwicklungen eine neue Qualität hat und zugleich die Chemiebranche in besonderer Weise betrifft.
Denn unsere Branche ist besonders auf den Rohstoff Erdgas angewiesen. Und zwar nicht – wie immer noch oft fälschlicherweise angenommen wird – in erster Linie auf den Energieträger für die Wärmeerzeugung, sondern vor allem auf den chemischen Rohstoff für die Weiterverarbeitung zu einer endlosen Zahl von Chemieprodukten, die ihrerseits als Vor- und Endprodukte das Rückgrat für einen erheblichen Teil der industriellen Wertschöpfung in Deutschland bilden. Kurz gesagt: Wenn die deutsche Chemie kein Gas mehr bekommt, dürften in vielen Betrieben schnell die Lichter ausgehen – auch außerhalb der Chemiebranche.
Damit die Gaskrise in Folge des russischen Angriffskrieges nicht zur existenziellen Krise für unsere Branche und unser Wirtschaftsmodell wird, bedarf es gemeinsamer und solidarischer Anstrengungen von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft.
Wir sollten alles dafür tun, möglichst schnell so viel Gas wie möglich aus anderen Quellen bereitzustellen und zugleich unseren Verbrauch auf das Notwendigste zu beschränken. Sollte es dennoch zur Diskussion darüber kommen, wer wie viel Gas erhält, wird die Chemie einmal mehr – und vielleicht noch besser als in der Vergangenheit – erklären müssen, inwieweit das von ihr verbrauchte Gas unverzichtbarer Bestandteil zahlreicher Produkte ist, auf die viele von uns nur sehr ungern verzichten wollen oder nicht verzichten können. Natürlich lässt sich manches durch Importe ersetzen, was aber nicht nur hieße, auf eine ausgefeilte und hochproduktive Form der Wertschöpfung zu verzichten, sondern auch, sich in neue wirtschaftliche Abhängigkeiten zu begeben.
Der VAA wird in den schwierigen Zeiten, die vor uns liegen, ein verlässlicher und solidarischer Partner sein. Gerade haben wir gemeinsam mit dem Bundesarbeitgeberverband Chemie die Öffnungsklausel zum Manteltarifvertrag für akademisch gebildete Angestellte in der chemischen Industrie verlängert, um einheitliche betriebliche Regelungen der Kurzarbeit zu ermöglichen und den Unternehmen für die Herausforderungen der aktuellen Situation Handlungsspielraum zu geben. Unser oberstes Anliegen als VAA war, ist und bleibt dabei die Interessenvertretung unserer Mitglieder – der Fach- und Führungskräfte der Chemie- und Pharmabranche.
Stephan Gilow
Hauptgeschäftsführer des VAA