Die Wahl kann Deutschlands Wende sein
Nach der Bundestagswahl werden die Deutschen nun ohne ihre langjährige Kanzlerin auskommen müssen und wir alle fragen uns schon heute besorgt, was dann aus den alleingelassenen Bürgern werden soll. Haben wir uns nicht alle viel zu gern in den letzten 16 Jahren daran gewöhnt, dass man an Angela Merkel ein wenig die Eigenverantwortung abgeben kann? Eurokrise, Flüchtlingskrise, Finanzkrise, Terroranschläge, wachsender Antisemitismus und Spaltung der Gesellschaft: Merkel steuerte das Schiff mit Ruhe und Verlässlichkeit – und genau das ist es, was die Deutschen an ihren Regierungschefs so sehr schätzen. Sicherheit und Stabilität und das Gefühl dafür, dass jemand da ist, der sich auch in schweren Zeiten um einen kümmert. „Mutti“ eben.
Wir Deutsche sind mit dieser Einstellung in der Vergangenheit gut gefahren und die Parteien haben im Wahlkampf auch gezeigt, dass sie die deutsche Liebe zu entpolitisierten Verhältnissen verstanden haben. Und es ist und bleibt ebenfalls wahr: Nie ging es uns so gut wie heute. Wer über die Landesgrenzen hinausblickt, sieht Verhältnisse, die in vielen Fällen schlechter sind als in Deutschland. Die Biederkeit des Wahlkampfs hat dann auch vor allem die große Sorge der Kandidaten gezeigt, nur nicht anecken oder jemanden verschrecken zu wollen. Immer noch besser, als eine offene Diskussion über die Zukunft des Landes und die anstehenden Herausforderungen zu führen.
Beinahe erleichtert werden wir irgendwann nach der Bundestagswahl feststellen, dass die Politik der kommenden Koalition – welcher Farbkonstellation auch immer – sich hoffentlich konkret und mit Intensität um die Fragen kümmern kann, die für Deutschland, aber auch für uns Führungskräfte in den Unternehmen von Bedeutung ist: Beschleunigung der Digitalisierung und Vorantreiben der Technologisierung, Transformation der Wirtschaft zu mehr Nachhaltigkeit auf allen Ebenen und die Entwicklung eines passenden Rechtsrahmens für die neue Arbeitswelt, die in den Unternehmen „New Work“ genannt wird.
Auch die Pandemie und europapolitische Herausforderungen werden die Arbeit der kommenden Regierung in Beschlag nehmen. Gerade Digitalisierung und Arbeitswelt sind für Führungskräfte Themen, die uns schon heute beschäftigen und in Zukunft noch mehr fordern werden. Wir halten eine zentrale Bündelung der digitalen Kompetenzen für zwingend notwendig und meinen, dass ein Digitalvorbehalt für alle Gesetze sinnvoll ist, die Digitalfragen berühren, analog zum Finanzierungsvorbehalt des Finanzministeriums. Breitbandausbau und Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung müssen für die neue Bundesregierung an oberster Stelle stehen.
Ebenso wichtig sind für uns die Antworten der nächsten Bundesregierung auf die Fragen nach der Transformation des Wirtschaftsstandorts Deutschland. Wie gelingt eine nachhaltige, marktbasierte und innovationsorientierte Klima- und Energiewende? Was bedeutet dies für unsere Unternehmen in der Chemie- und Pharmaindustrie? Welche rechtlichen Auswirkungen hat die neue Arbeitswelt für Arbeit und Wahlen der Sprecherausschüsse? Darüber werden wir übrigens auf dem Sprecherausschusstag unseres politischen Dachverbandes ULA am 24. und 25. November 2021 diskutieren, zu dem ich alle Interessierten schon heute einladen möchte. Aufgaben gibt es genug – gehen wir sie einfach an.
Stephan Gilow
Hauptgeschäftsführer des VAA
