Zuversicht in der Krise
Mit Krieg, Energie- und Wirtschaftskrise, Inflation und Pandemie sind vier apokalyptische Reiter aufgetreten, die uns alle direkt betreffen. Wer hätte sich noch vor Jahresfrist vorstellen können, dass der russische Präsident Wladimir Putin die Ukraine mit Terror überzieht, verantwortungslose Drohungen eines Einsatzes von Nuklearwaffen ausstößt und bewusste Angriffe auf die Zivilbevölkerung befiehlt. Er will Angst säen, spalten und einschüchtern. Uns ist allen klar, dass er damit keinen Erfolg haben darf. Daher ist es gut und richtig, dass Deutschland und Europa zusammenstehen und Solidarität zeigen – untereinander und mit der Ukraine.
Die Energiekrise infolge des russischen Überfalls auf die Ukraine legt aber auch die Herausforderungen, vor denen die Industrie derzeit steht, wie unter einem Brennglas offen. Schon jetzt sind Unternehmen gezwungen, ihre Produktion bei besonders energieintensiven Prozessen zu drosseln. Erste Anlagen stehen bereits still. Die ersten Vorschläge der Gaskommission zur Gaspreisbremse sind ein wichtiger erster Schritt, der vielen Unternehmen die Hoffnung eröffnet, die aktuelle Energiekrise zu überleben. Sie ist ein erster und erfreulicherweise ein unbürokratischer Schritt, der 25.000 Unternehmen in Deutschland helfen kann. Auch die Bundesregierung ist nicht untätig geblieben. Sie sorgt für die Befüllung der Gasspeicher und reduziert die Nutzung von Gas zur Stromerzeugung. Sie ergreift Effizienz- und Einsparmaßnahmen im Gebäudesektor und in den Unternehmen und diversifiziert die Erdgasversorgung. Das alles ist zielführend und hilfreich – und die Lage für den Winter 2022 sieht weniger dramatisch aus als befürchtet.
Dennoch bleibt eine hohe Ungewissheit über die Lage vor allem für den Winter 2023/24, wenn die Speicher wieder leer sind und nicht mehr über die russischen Gaslieferungen gefüllt werden können. Auch die drei der geplanten fünf schwimmenden LNG-Terminals mit insgesamt circa 170 TWh-Jahreskapazität, die bis Ende des Jahres ans Netz gehen sollen, werden das notwendige Volumen nicht vollständig ersetzen können. Hinzu kommt, dass weitere Erfolgsfaktoren unseres Industrielands derzeit ins Wanken geraten sind: Die Infrastruktur bröckelt, Innovationen lassen nach, Fachkräfte sind rar. Zugleich befindet sich die Welt im Umbruch: Nachhaltigkeit und Digitalisierung erfordern unsere vollständige Aufmerksamkeit. Nicht nur unser Wohlstand ist bedroht, sondern die Stabilität und der Zusammenhalt unserer Gesellschaft sind in Gefahr.
Es bleibt also viel zu tun. Grundsätzlich sind Krisen aber immer auch Chancen. Die chemisch-pharmazeutische Industrie hat seit ihrem Bestehen schon viele große Veränderungen und Weiterentwicklungen erlebt – und sich immer wieder neu erfunden. Das gilt auch für die aktuelle Lage. Neue Allianzen sind entstanden und scheinbar unüberbrückbare Gegensätze im politischen Dialog haben sich aufgelöst. Die Kommunikation unter den Sozialpartnern ist gut und hat sich sogar verbessert. Der enge Austausch zwischen dem Verband der Chemischen Industrie (VCI) und dem VAA ist noch substanzieller geworden. Es gibt also Weichenstellungen und Signale, die in eine gute Zukunft deuten. Wir werden an den Entwicklungen dranbleiben, um die Rahmenbedingungen für unsere Mitglieder in den Unternehmen und damit für die Chemie- und Pharmarindustrie zu verbessern.
Dr. Birgit Schwab
1. Vorsitzende des VAA