Brexit: riskantes Spiel für die Chemie
Es sind bewegte Zeiten für Europa: Vor fast zweieinhalb Jahren haben die Briten mehrheitlich dafür gestimmt, nicht mehr Teil der Europäischen Union bleiben zu wollen. Nachdem unmittelbar nach der Entscheidung vor allem Fragen nach der politischen Signalkraft und den veränderten Nettozahlungsströmen in Europa die Berichterstattung dominierten, geht seit einiger Zeit das wirtschaftspolitische Schreckgespenst des unkontrollierten Brexits um: Wenn Großbritannien im März 2019 ohne Abkommen aus der EU ausscheiden würde, wären die wirtschaftlichen Folgen massiv. Für Großbritannien, aber auch für die verbliebenen EU-Staaten.
Das Institut der deutschen Wirtschaft hat ermittelt, dass neben Großbritannien die deutsche Wirtschaft am stärksten betroffen wäre. Das gilt besonders für die deutsche Chemie- und Pharmabranche, deren siebtgrößter Handelspartner Großbritannien ist. Deutsche Unternehmen exportierten 2017 Produkte im Wert von 11,2 Milliarden Euro nach Großbritannien und importierten für 6,5 Milliarden Euro. Zollzahlungen und zeitaufwendige Zollprozeduren an der Grenze zwischen der EU und Großbritannien würden die häufig komplexen und grenzüberschreitenden europäischen Wertschöpfungsketten empfindlich stören.
Es steht also viel auf dem Spiel. Die Einigung zwischen den europäischen und britischen Unterhändlern auf einen Vorschlag für das Austrittsabkommen ist deshalb erfreulich, auch wenn durch den geplanten vorübergehenden Verbleib der Briten in Zollunion und Binnenmarkt nur Zeit für die Aushandlung der künftigen Beziehungen gekauft würde. Allerdings kann bis zur finalen Ratifizierung des Austrittsabkommens durch die Parlamente von Entwarnung keine Rede sein. Das derzeitige Chaos in der britischen Politik mit täglichen Rücktritten zeigt, wie fragil die Lage ist.
Und es ist ein Paradebeispiel dafür, wie der Kampf um Macht und Einfluss über das Wohl der Gesellschaft gestellt wird. Boris Johnson etwa könnte aus dem Machtkampf als neuer Premierminister hervorgehen. Über ihn ist bekannt, dass er nach der Entscheidung für ein Referendum einen <link https: www.theguardian.com politics oct secret-boris-johnson-column-favoured-uk-remaining-in-eu external-link-new-window external link in new>Gastbeitrag für eine Zeitung in zwei Fassungen schrieb: In einer Version empfahl er seinen Landsleuten den Verbleib in der EU, in der anderen plädierte er lautstark für den Brexit. Veröffentlicht wurde die EU-kritische Version des Beitrages – nachdem klar war, dass sich der damalige Premierminister David Cameron für den Verbleib in der EU stark machte. Das mag man als politische Wandlungsfähigkeit bewerten, aus meiner Sicht zeigt sich darin nackter Opportunismus. Wider besseres Wissen für eine so weitreichende und wirtschaftsschädliche Entscheidung wie den Brexit einzutreten, ist zynisch.
Dass Boris Johnson nach wie vor Chancen auf den Chefsessel in der Downing Street hat, veranschaulicht zudem eine der großen Gefahren des Populismus: Die Rechnung für die vollmundigen Versprechungen zahlen in der Regel andere. Wenn die Briten eines Tages merken, wie sehr sich der Brexit gegen sie selbst richtet, wird der Zechpreller Johnson von der politischen Bühne verschwunden sein – oder einen Weg finden, anderen dafür die Schuld zu geben. Spätestens dann wäre der Brexit ein weiteres Lehrstück dafür, welchen Schaden Populisten anrichten können. Im Interesse Europas, der deutschen Chemiebranche und der Briten hoffe ich persönlich sehr, dass es anders kommt.
Gerhard Kronisch, Hauptgeschäftsführer des VAA
