Mehr Engagement für gesellschaftliche Akzeptanz der Chemie
Die Chemie ist im Wandel. Sie ist heute mit fundamentalen und strukturellen Veränderungen konfrontiert. Digitalisierung und Nachhaltigkeit sind Kräfte, die erheblichen Einfluss auf Innovationsprojekte und Investitionen haben sowie Geschäftsmodelle der Unternehmen verändern. Die Klimakrise und der russische Krieg gegen die Ukraine haben den Druck zum tiefgreifenden Wandel noch erhöht. Vor Kurzem erst hat uns die Meldung der Weltorganisation für Meteorologie (WMO) aufgeschreckt, dass bereits im Jahr 2026 die globale Durchschnittstemperatur eines Jahres erstmals mehr als 1,5 Grad Celsius über dem vorindustriellen Niveau liegen könnte. Und der Krieg im Osten Europas hat neben dem unermesslichen Leid für die Menschen in der Ukraine auch drastisch vor Augen geführt, dass unsere Energieversorgung und damit unsere gesamte Wirtschaft von Ländern abhängen, die unsere Werte von Demokratie, Freiheit und Gleichberechtigung nicht teilen.
Es ist daher nicht verwunderlich, dass Wissenschaft und Industrie der Chemie sich daran gemacht haben, die Chemie neu zu denken. Für Dr. Karsten Danielmeier, den Präsidenten der Gesellschaft Deutscher Chemiker (GDCh), heißt dies zuallererst, unsere etablierten Verfahren der Energie und Rohstoffgewinnung auf Basis von Erdöl, Erdgas oder Kohle als das anzusehen, was sie sind: Auslaufmodelle, die so schnell wie möglich durch nachhaltige Alternativen abgelöst werden müssen. Künftig soll und muss die Industrie in Deutschland Grundchemikalien hier vor Ort aus nachwachsenden oder recycelten Materialien herstellen. Wie das gehen soll, skizziert Peter Seeberger in seinem Interview mit dem VAA, das wir in der Juniausgabe unseres VAA Magazins veröffentlichen werden. In seinem Center for the Transformation of Chemistry (CTC) geht es dabei nicht nur um die Identifizierung der großen Themenfeldern, sondern um die Umsetzung von Pilotprojekten.
Die Zeit wird knapp. Das CTC muss schnellstmöglich aufgebaut werden und mit Forschung und Zusammenarbeit beginnen, um dann mit seinen künftig 1.000 Mitarbeitern diese Transformation zu gestalten. Für uns Fach- und Führungskräfte ist dabei sein starkes Plädoyer für eine stringente Industriepolitik mit mehr Forschung und wohldurchdachter Regulierung von großer Bedeutung. Erfordert dieses Plädoyer auch von uns einen größeren Einsatz.
Nicht nur die Wissenschaft, auch die Politik erwartet das von uns. Auf dem kürzlich zu Ende gegangenen Führungskräftetag der ULA blies der Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt Reiner Haselhoff ins gleiche Horn. Er forderte die Führungskräfte auf, sich stärker gesellschaftspolitisch zu engagieren, Kompetenz im öffentlichen Dialog einzufordern und ihren Teil nicht nur im wirtschaftspolitischen Dialog einzubringen. Gute und verantwortungsvolle Führung und gesellschaftspolitische Teilhabe hindere das Aufkommen extremer Parteien. Das öffentlich vorgetragene Bekämpfen wirtschaftspolitischen Unsinns sichere den Wohlstand und stärke die Demokratie. Weggucken mache die Extreme stark.
Die Transformation der Chemie wird nicht im gewohnten Tempo vonstattengehen, sondern Teil einer schnellen und gigantischen Transformation sein. Nicht nur die Chemie, sondern die Gesellschaft insgesamt steuert um. Die Rolle der Chemie ist dabei enorm. Sie macht einen nachhaltigen Fortschritt erst möglich. Diese Tatsache sollte viel stärker als bisher in der Öffentlichkeit platziert und dargestellt werden. Wer weg will von fossilen Energieträgern, um den Klimawandel zu bremsen und die gefährlichen Abhängigkeiten in der Energie und Rohstoffversorgung zu reduzieren, sollte öffentlich wirksam kämpfen und an der Erstellung eines tragfähigen gesellschaftlichen Konsenses mitarbeiten. Nur eine gemeinsamen Kraft Anstrengung aller Stakeholder der Chemie in Wirtschaft, Wissenschaft und Politik wird das Gelingen der Transformation der Chemie ermöglichen.
Der VAA wird dieses Thema in den kommenden Monaten aufgreifen. Im kommenden Jahrbuch wird eine Reihe von Autoren aus Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft, Verbänden, Medien und Unternehmen zur Frage der gesellschaftlichen Akzeptanz der Chemie Stellung nehmen. Auch für uns Fach- und Führungskräfte bleibt dieses Thema in den kommenden Jahren ganz oben auf der Agenda.
Stephan Gilow
Hauptgeschäftsführer des VAA