LAG Nürnberg: Privatüberwachung erkrankter Beschäftigter ohne Verdacht nicht rechtens
Ohne hinreichende Verdachtsmomente ist ein Arbeitgeber nicht befugt, einen arbeitsunfähig erkrankten Arbeitnehmer auf seinem Privatgrundstück beobachten und filmen zu lassen. Das hat das Landesarbeitsgericht Nürnberg entschieden.
Ein als Betontechnologe beschäftigter Arbeitnehmer war über einen Zeitraum von mehr als einem Jahr krankgeschrieben. Da der Arbeitgeber Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers hatte, ließ er ihn bei Tätigkeiten auf seinem Hausgrundstück von einem Privatdetektiv beobachten und durch ein Loch in der Hecke mit einer Kamera beim Pflastern einer Terrasse und beim Bau einer Gartenmauer aufzeichnen. Der Arbeitgeber kündigte das Arbeitsverhältnis außerordentlich mit sofortiger Wirkung. Als Begründung trug er vor, der Arbeitnehmer habe über einen längeren Zeitraum hinweg schwere körperliche Arbeiten verrichtet und somit die Arbeitsunfähigkeit nur vorgetäuscht, sich zumindest aber genesungswidrig verhalten.
Der Arbeitnehmer wehrte sich gegen die Kündigung vor dem Arbeitsgericht. Er sei bei den Arbeiten in seinem Garten seinem Schwiegersohn und seinem Nachbarn nur mit leichten Tätigkeiten zur Hand gegangen und habe dabei ein- oder zweimal eine Motorschubkarre beladen sowie etwa 20 Minuten lang einen Zweitaktstampfer bedient. Auf diese Weise habe er im privaten Umfeld ohne Druck den Versuch unternehmen wollen, die Belastungsfähigkeit seiner verletzten Schulter zu testen und sich somit gerade nicht genesungswidrig verhalten.
Das Arbeitsgericht erklärte die Kündigung für unwirksam, weil aus seiner Sicht vor Ausspruch der Kündigung eine Abmahnung erforderlich gewesen wäre. Das genesungswidrige Verhalten des Arbeitnehmers sei nicht so schwerwiegend, dass dem Arbeitgeber eine Vorsetzung des Arbeitsverhältnisses nicht zuzumuten gewesen wäre. Der Arbeitgeber legte gegen das Urteil Berufung ein und bot dem Arbeitnehmer nach Aufforderung durch dessen Anwalt zugleich eine Weiterbeschäftigung an.
Im Rahmen der Weiterbeschäftigung wurde der Arbeitnehmer zeitweise in einem Baucontainer ohne Tageslicht mitten in einer Produktionshalle mit erheblicher Lärmbelästigung untergebracht und durfte nur noch im Werk und nicht mehr auf Baustellen arbeiten. Über längere Zeit wurde ihm keinerlei Tätigkeiten zugewiesen und einen Zugriff auf das Firmennetzwerk verweigerte ihm der Arbeitgeber. Der Arbeitnehmer beantragte deshalb für den Fall der Abweisung der Berufung des Arbeitgebers die Auflösung des Arbeitsverhältnisses sowie die Zahlung einer Abfindung in Höhe von mindestens 60.000 Euro, weil ihm eine Weiterbeschäftigung nicht mehr zumutbar sei.
Das Landesarbeitsgericht (LAG) Nürnberg entschied in der Berufung ebenfalls im Sinne des Arbeitnehmers (Urteil vom 29. November 2022, Aktenzeichen: 1 Sa 250/22).
Die LAG-Richter stellten klar, dass die heimliche Überwachung auf dem Privatgrundstück des erkrankten Arbeitnehmers einen erheblichen Eingriff in die geschützte Privatsphäre des Arbeitnehmers darstellt, der allenfalls durch konkrete Verdachtsmomente für eine schwere Pflichtverletzung hätte gerichtfertigt werden können. Da solche Verdachtsmomente in diesem Fall nicht vorlagen, war laut LAG sowohl die Videoaufzeichnung als auch der schriftliche Bericht der Detektei im Kündigungsschutzverfahren nicht verwertbar.
Unabhängig davon stand allerdings für das LAG aufgrund der eigenen Aussagen des Arbeitnehmers im Verfahren fest, dass dieser seine Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis erheblich verletzt hat. Es verstehe sich von selbst, dass man mit einer Schulterverletzung einen Bodenstampfer nicht bedienen soll. Eine solche Verletzung der Rücksichtnahmepflicht sei an sich geeignet, eine außerordentliche Kündigung zu rechtfertigen. Da entsprechend den Aussagen des Arbeitnehmers allerdings nur von einer relativ kurzen Betätigung des Bodenstampfers auszugehen sei, wäre aus Sicht des LAG unter Abwägung der Interessen der beiden Vertragsparteien dem Arbeitgeber die Beschäftigung bis zum Ablauf der Frist einer ordentlichen Kündigung zumutbar gewesen. Die außerordentliche Kündigung wegen genesungswidrigen Verhaltens ohne vorherige Abmahnung war somit unwirksam.
Das LAG entschied zudem: Die durch geänderte und schlechte Arbeitsbedingungen gegen den Arbeitnehmer zum Ausdruck kommende feindselige Haltung des Arbeitgebers kann bei der Erfüllung des Weiterbeschäftigungsanspruchs die Auflösung des Arbeitsverhältnisses auf Antrag des Arbeitnehmers rechtfertigen. Die Höhe der entsprechenden Abfindung wurde durch das LAG allerdings auf 35.000 Euro festgesetzt, weil der Arbeitnehmer durch seine Pflichtverletzungen eine erhebliche Mitverantwortung an der Störung des Arbeitsverhältnisses trage.
VAA-Praxistipp
Auch wenn Arbeitgeber Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit ihrer Beschäftigten haben, dürfen sie diese nicht einfach heimlich überwachen – insbesondere nicht auf deren Privatgrundstück. Allenfalls hinreichende Verdachtsmomente für Straftaten oder andere schwere Pflichtverletzungen können solche Maßnahmen laut LAG Nürnberg rechtfertigen. Das Urteil des LAG zeigt, dass auf diesem Weg erlangte Beweismittel im Zweifelsfall im Kündigungsschutzverfahren nicht verwertet werden dürfen.