Wirtschaftspolitik gegen Corona: Mit Kurzarbeit durch die Krise, mit Investitionen aus der Krise?
Es sind Zahlen, die vor Kurzem noch undenkbar erschienen: In der chemischen Industrie waren Anfang Mai nach Angaben des Bundesarbeitgeberverbandes Chemie (BAVC) 15 Prozent der Arbeitnehmer in Kurzarbeit, der durchschnittliche Arbeitsausfall lag bei 62 Prozent. Auch wenn dieser Anteil in der Chemie niedriger liegt als in anderen Branchen – für rund 90.000 betroffene Arbeitnehmer bedeutet die derzeitige Lage erhebliche finanzielle Einschnitte. Zu den besonderen Rahmenbedingungen für außertarifliche und leitende Angestellten beim Thema Kurzarbeit stellt der VAA deshalb in seinem Internetangebot ausführliche Informationen bereit, darunter auch einen Kurzarbeitergeld-Rechner.
Dass wir hier bislang nur über Verdienstausfälle und nicht über Beschäftigungsabbau in größerem Umfang sprechen, verdanken wir aus historischer Sicht einer Maßnahme, die zuerst für die damals noch eng mit der Chemiebranche verflochtene Kali-Industrie galt: 1910 zahlte das Deutsche Reich im Rahmen des Kapazitätsabbaus dort eine sogenannte Kurzarbeiterfürsorge, die 14 Jahre später als allgemeine Kurzarbeiterunterstützung gesetzlich verankert wurde.
Die Kurzarbeit hat sich seither als arbeitsmarktpolitisches Instrument bewährt, vor allem in der Finanz- und Wirtschaftskrise in den Jahren 2008 und 2009. Das deutsche Instrument der Kurzarbeit hat deshalb inzwischen viele Nachahmer gefunden. Zuletzt hat sogar die britische Regierung – sonst nicht für ihre Vorliebe zu radikalen Eingriffen in den Arbeitsmarkt bekannt – aufgrund der Coronapandemie ein vergleichbares Instrument eingeführt. Das deutsche Kurzarbeitergeld hat natürlich den Vorteil, dass es lange erprobt und gut austariert ist. Die zur Bekämpfung der Coronaauswirkungen notwendigen Anpassungen konnten schnell und passgenau umgesetzt werden, die erhoffte Beschäftigungssicherung funktioniert gut. Das Gegenteil lässt sich derzeit auf dem US-Arbeitsmarkt beobachten, wo mangels entsprechender Instrumente in den sechs Wochen der Ausgangssperre mehr als 30 Millionen Menschen arbeitslos geworden sind, und das mit geringer finanzieller Unterstützung.
Hierzulande bleibt zu hoffen, dass die finanziellen Lasten durch das Kurzarbeitergeld nicht zu groß werden. Und das wird maßgeblich davon abhängen, ob die öffentliche Hand die durch die Haushaltsdisziplin der vergangenen Jahre entstandenen finanziellen Freiräume so nutzt, dass die Wirtschaft nach dem Coronaabschwung zügig wieder auf die Beine kommt.
Dabei steht die Politik vor einem Dilemma: Einerseits müssen solche Maßnahmen zeitnah in die Wege geleitet werden, um größere Schäden durch einen langanhaltenden Abschwung zu verhindern. Andererseits könnte eine Stimulierung der Konsumnachfrage während der Coronapandemie gesundheitspolitische Maßnahmen wie Abstandsgebote und Kontaktreduktion konterkarieren. Oder mit geringer Wirkung verpuffen, weil die Zurückhaltung beim Konsum infolge der allgemeinen Verunsicherung auch durch Kaufanreize nicht überwunden wird.
Stattdessen muss der Staat investieren, und zwar wortwörtlich. Einen konkreten Vorschlag, wie so etwas aussehen könnte, gibt es bereits aus berufenem Munde: In einem <link https: www.boeckler.de pdf pm_imk_2020_05_07.pdf external-link-new-window external link in new>gemeinsamen Papier schlagen Vertreter verschiedener Wirtschaftsforschungsinstitute – darunter das gewerkschaftsnahe Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung und das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft – ein Investitionsprogramm vor, das die Schwerpunkte auf die Bewältigung der Dekarbonisierung, des demografischen Wandels und der digitalen Transformation legt.
Die Wirtschaftsforscher schlagen vor, dass der Staat Kredite aufnimmt, um gezielt private und öffentliche Investitionen in den Sektoren Gesundheit, Wohnen, erneuerbare Energie, emissionsarme Verkehrsinfrastruktur, digitale Infrastruktur und Bildung zu fördern. Also keine Subventionierung der Autoindustrie durch eine kurzfristige Abwrackprämie, sondern durch die gezielte Förderung von Elektroautos, Ladesäulen und die Batteriezellenproduktion.
Gleichzeitig muss der Welthandel wiederbelebt werden, damit die Vorteile der weltweiten Arbeitsteilung auch in Zukunft Wohlstand generieren können. Dafür müssen globale Lieferketten wiederhergestellt und zusätzliche Handelsbarrieren vermieden werden. Es muss aber auch darüber gesprochen werden, wo die <link https: newsletter.vaa.de ausgabe-032020 corona-und-die-weltwirtschaft-grenzen-der-globalisierung external-link-new-window external link in new>Grenzen einer Globalisierung liegen, damit sie dem Wohl möglichst vieler Menschen dient.
Diese Aufgaben sind allesamt nicht neu. Sowohl die Investitionslücke der vergangenen Jahrzehnte als auch die Notwendigkeit, die Globalisierung neu zu denken, standen bereits vor Corona auf der Tagesordnung. Die Krise zwingt uns jetzt dazu, diese Herausforderungen schneller anzugehen, aber sie bietet uns gleichzeitig auch die Chance dazu. Wir sollten sie nutzen.
Gerhard Kronisch, Hauptgeschäftsführer des VAA