Chemie in schweren Gewässern
Es ist nicht leicht, mit Optimismus auf das neue Jahr 2024 zu blicken. Zu viele Krisen werfen einen tiefen Schatten auf die politische und wirtschaftliche Landschaft. Da ist zum einen der besorgniserregende Zustand der Ampel. Streit und Streiks prägen schon zu Beginn das neue Jahr. Es ist einfach nicht zu erkennen, wie die politisch so unterschiedlich zusammengesetzte Bundesregierung aus ihren Konflikten herausfinden und zu einer gemeinsamen Linie kommen kann. Zwar wurde der letzte Haushaltsstreit um den Bundeshaushalt gemeistert. Doch dies um einen Preis von Lösungen, die vorläufig wirken und die tiefen inhaltlichen Gräben auf den Gebieten Energie-, Klima-, Wirtschafts- und Sozialpolitik nicht überdecken können. Auch außenpolitisch sind die Ampelpolitiker alles andere als einig.
Das politisch gelähmte Berlin sieht sich dabei einer schwierigen Konjunktur gegenüber. Deutschlands Wirtschaft schrumpft: Die Prognose des Instituts der deutschen Wirtschaft geht von einem Rückgang von 0,5 Prozent aus. Die Industrie stagniert und die Bauwirtschaft leidet unter hohen Kosten. Andere Länder wie Frankreich oder die USA werden im neuen Jahr wachsen. Im internationalen Vergleich steht Deutschland auf vielen Gebieten wie Infrastruktur und Bildung schlecht da. In unseren Nachbarländern Frankreich und Polen werden zunehmend Stimmen laut, die sich Sorgen machen. Wenn der wirtschaftliche Motor Europas ins Stottern gerät, dann hat das Auswirkungen auf die ganze EU. Aber auch andere Themen sorgen für Verwunderung oder Verärgerung bei unseren europäischen Partnern. So die deutsche Verteidigungspolitik. Seien es die Probleme mit Frankreich beim Kampflugzeugsystem FCAS, beim Panzer MGCS oder beim europäischen Luftverteidigungssystem – überall wird deutlich, dass sich die Kooperation in der EU verschlechtert hat.
Viele dieser Probleme sind hausgemacht. Ob bei Kürzungen im Haushalt oder der Zusammenarbeit mit den europäischen Partnern: Es wird nicht vom Ende her gedacht. Im Vordergrund scheint einzig und allein der Wille zu stehen, eine Kompromisslösung zu finden, der den drei Parteien der Bundesregierung das politische Überleben verlängert.
Zum größten wirtschaftspolitischen Problem hat sich die schwache Investitionstätigkeit in Deutschland entwickelt. Dabei dürfte fast allen Beobachtern klar sein, dass die deutsche Wirtschaft zwingend auf Investitionsimpulse angewiesen ist. Wenn sich hier nicht in naher Zukunft etwas ändert, wird der wirtschaftliche Abstieg des Standorts Deutschland nicht mehr zu vermeiden sein. Dieser Niedergang trifft insbesondere die energieintensive Industrie. Gerade in der Chemie sind die Probleme mit den Händen zu greifen. Die kommende Tarifrunde wird im Krisenmodus stattfinden. Während zum 1. Januar 2024 die Tarifentgelte um 3,25 Prozent gestiegen sind und den Beschäftigten im Januar erneut ein tarifliches Inflationsgeld von 1.500 Euro ausbezahlt wird, ist im Moment nicht ersichtlich, worüber die Sozialpartner in der kommenden Tarifrunde nach einem Produktionseinbruch von acht Prozent und einem Umsatzrückgang von zwölf Prozent im vergangenen Jahr verhandeln werden. Zumal es keine realistische Aussicht auf Wachstum im neuen Jahr gibt.
An dieser Krise in der Chemieindustrie hat die Bundesregierung entscheidend mitgewirkt. Sie hat sich nicht entschließen können, der Chemie mit einem Brückenstrompreis über den schweren Wettbewerbsnachteil zu hoher Energiekosten am deutschen Standort hinwegzuhelfen. Wer eine Transformation der Industrie zu mehr Nachhaltigkeit möchte, steht in der Pflicht, für Rahmenbedingungen zu sorgen, die der Industrie diese Transformation auch ermöglicht. Die Branche muss also sowohl mit einer tiefen Krise als auch mit der Jahrhundertaufgabe Transformation fertig werden. Unsere Chemie verfügt über kluge Fach- und Führungskräfte sowie bestens ausgebildete Beschäftigte. Aber auch sie werden die Herausforderungen nur schultern, wenn Sozialpartner, Politik und Gesellschaft an einem Strang ziehen.
Dr. Birgit Schwab
1. Vorsitzende des VAA