Zeitenwende und die Führungskräfte in Chemie und Pharma
„Wir sind heute in einer anderen Welt aufgewacht“ – sagte die deutschen Außenministerin Annalena Baerbock am 24. Februar 2022. So kommentierte sie den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine, der in den Augen vieler Beobachter eine geopolitische Zeitenwende darstellt.
In ihrer Bedeutung für alle Dimensionen und Bereiche der Politik sind die Konsequenzen dieser Entwicklung noch nicht vollständig erkennbar. Sicher ist nur, dass sie tiefgreifend sein werden. Viel wird davon abhängen, wie lange der Krieg dauert und wie viele Opfer er fordert. Das werde, so der Politikwissenschaftler Herfried Münkler, darüber entscheiden, wie man in Zukunft mit Russland umgehen wird.
Auch die chemisch-pharmazeutische Industrie ist von der großen energetischen Abhängigkeit Deutschlands von russischem Gas, Steinkohle und Öl stark betroffen. Rund 55 Prozent des in Deutschland verbrauchten Erdgases stammen aus Russland, bei Steinkohle ist es die Hälfte, bei Erdöl gut ein Drittel. Oberstes Gebot muss die Reduktion dieser Abhängigkeit sein.
Es wird sehr schwierig, eine Unabhängigkeit über einen kurzfristigen Importstopp von Öl und Gas zu erreichen. Dies hätte für die Wertschöpfungsketten und die Arbeitsplätze in Deutschland massive Folgen. Eine kontinuierliche Belieferung mit Rohstoffen und Energie ist für die Produktion in der Industrie unverzichtbar. Längere Ausfälle hätten massive Konsequenzen für alle Wertschöpfungsketten. Die sozialen und ökonomischen Konsequenzen für die Wirtschaft, aber auch für die Versorgung der Bevölkerung, wären gewaltig.
Die Zahlen, die der Verband der Chemischen Industrie (VCI) veröffentlicht hat, sind beeindruckend. So setzt die Chemie setzt derzeit rund 2,8 Millionen Tonnen Erdgas als Rohstoff (27 Prozent des Gesamtverbrauchs) und 99,3 Terawattstunden Erdgas (73 Prozent des Verbrauchs) für die Erzeugung von Dampf und Strom im Jahr ein. Außerdem benötigt die Branche über 14 Millionen Tonnen Naphtha – ein Derivat des Öls, auch Rohbenzin genannt – als Rohstoff für die Herstellung ihrer Produkte.
Der VAA unterstützt daher die Position der Bundesregierung, die Abhängigkeit von russischen Importen strategisch, aber nicht überhastet zu verringern. Auch begrüßt der VAA uneingeschränkt die Sanktionen, die Deutschland und die EU über Russland verhängt haben.
Für viele Beobachter und Betroffene mag es schwer zu akzeptieren sein, dass die EU nicht alle Energielieferungen aus Russland unmittelbar und vollständig kappt – und damit aktuell mit gut einer Milliarde Euro täglich Putins Krieg in der Ukraine finanziert. Die Lage in der Ukraine ist furchtbar. Täglich sterben Menschen und werden Städte angegriffen. Die Bilder, die uns erreichen, sind unerträglich. Und dennoch würde ein Importstopp – besonders bei Erdgas – das Los dieser Opfer nicht sofort verbessern. Kriegsherr Putin würde von seinem verbrecherischen Tun nicht ablassen.
Es muss daher alles dafür getan werden, die Energielieferungen aus Russland so schnell wie möglich durch solche aus anderen Ländern zu ersetzen. Auch der schnellere Ausbau der erneuerbaren Energien ist das Gebot der Stunde. Dabei kann Energiesparen beim individuellen Verhalten hilfreich sein. Die Forderung nach einem Tempolimit oder autofreien Sonntagen sind persönlich verständlich. Sie können ein sichtbares Zeichen der Solidarität mit der Ukraine sein. Dennoch sind die Hauptkonsumenten der russischen Energie nicht die Haushalte, sondern die Industrie. Wenn sie zum Verzicht angehalten oder gezwungen würde, bedeutete dies nicht nur höhere Preise, sondern letztlich auch die Gefährdung von Arbeitsplätzen. Die Führungskräfte der chemisch-pharmazeutischen Industrie unterstützen daher das verantwortungsvolle Agieren der Regierung. Das Ziel, die vollständige Lösung von der Abhängigkeit Russlands, muss klar sein. Der Weg dahin jedoch strategisch und wohlüberlegt.
Stephan Gilow
Hauptgeschäftsführer des VAA
