Europäische Industriepolitik: Besser spät als nie
„Endlich“, möchte man EU-Industriekommissar Antonio Tajani zurufen. Endlich misst die Europäische Kommission der Industrie die Bedeutung für Wachstum und Wohlstand zu, die ihr zukommt. Tajani hat in der vergangenen Woche ein industriepolitisches Konzept vorgelegt, das vollmundig eine „neue industrielle Revolution“ skizziert. Bis 2020 soll der Anteil der Industrie am BIP der EU auf 20 Prozent ansteigen. Wieder ansteigen genauer gesagt, denn bekanntermaßen lag der Anteil der industriellen Wertschöpfung in Europa in der Vergangenheit deutlich höher. Die 20-Prozent-Schwelle wurde in der EU erstmals im Jahr 2008 unterschritten und seitdem nicht wieder erreicht. Das Konzept ist also nicht unbedingt überehrgeizig, man will das Rad der Zeit nur ein wenig zurückdrehen. Es ist somit vor allem ein symbolischer Fingerzeig: Der sinkende Anteil der Industrie am BIP ist ein Trend, der umgekehrt werden muss, wenn Europa sein Wohlstandniveau halten will. Der damalige BDI-Präsident Hans-Olaf Henkel hat das bereits 1995 in seiner – zugegebenermaßen sehr zugespitzten – These über die begrenzte Möglichkeit zur Wertschöpfung durch gegenseitiges Haareschneiden formuliert. Offenbar war eine Finanzkrise nötig, um diese Erkenntnis auch in Brüssel reifen zu lassen.
Trotz alledem: Besser spät als nie. Dass die EU-Kommission das Thema Industriepolitik nun nach oben auf die Agenda setzt, ist aus Sicht der deutschen Chemie-Führungskräfte sehr zu begrüßen. Allerdings wird es nicht reichen, Ziele zu formulieren und Symbolpolitik zu betreiben. Gerade Industriearbeitsplätze mit geringem Qualifikationsniveau, die einmal ins außereuropäische Ausland abgewandert sind, lassen sich nicht mit der Brechstange zurückholen. Teilweise reicht der Technologievorsprung gegenüber den Schwellenländern nicht mehr aus, um die im Vergleich höheren Löhne zu erwirtschaften. Die europäischen Volkswirtschaften müssen Innovationen fördern und zur Marktreife bringen.
Nur so lassen sich in der Industrie und im Bereich der industrienahen Dienstleistungen Wertschöpfungsketten etablieren, die Arbeit und Wohlstand für hoch- und geringqualifizierte Arbeitnehmer bieten. Die EU-Kommission hebt diesen Umstand in ihrem Konzept völlig zu Recht hervor, schießt dann aber über das Ziel hinaus. Denn sie zählt Bereiche auf, in denen aus ihrer Sicht besondere Wachstums- und Beschäftigungspotenziale liegen und die sich vor allem rund um das Thema „green economy“ drehen. Und sie empfiehlt den Mitgliedsstaaten ausdrücklich, Investitionen ebenfalls vorrangig in diese Bereiche zu lenken.
Zweifellos muss die industrielle Produktion auf einer nachhaltigen Grundlage stehen. Zweifelslos macht es gerade die Energiewende in Deutschland erforderlich, Energietechnik und Energieeffizienz verstärkt in den Blick zu nehmen. Und zweifelslos ist es richtig, dafür auch „grüne“ Technologien zu fördern. Wer aber meint, von oben entscheiden zu können, welche Branchen die „richtigen“ für die Entwicklung einer nachhaltigen europäischen Industrie sind, wer die Investitionen in diese Branchen dirigieren will und so andere Bereiche vernachlässigt, der wiederholt bei der geplanten Reindustrialisierung die Fehler der Vergangenheit. Denn gerade die allzu einseitige Fixierung der Wirtschaftspolitik auf die Dienstleistungsgesellschaft hat die weitgehende Deindustrialisierung Europas überhaupt erst ermöglicht. Antoni Tajani hat anlässlich der Veröffentlichung seines Konzeptes erklärt, er wolle das Vertrauen der industriellen Investoren zurückgewinnen. Dazu gehört zuerst, sie nicht im gleichen Atemzug in zwei Klassen zu unterteilen.