Sicherung der Energieversorgung und der industriellen Basis: Herausforderungen bleiben
In den vergangenen Wochen sind die Gaspreise nach beispiellosen Höchstwerten im Sommer gesunken. Lag der Gaspreis Ende August noch viermal so hoch wie vor Beginn des Ukrainekriegs, so ist er nun so günstig wie zuletzt im Februar 2022 – also vor Beginn des Krieges. Damals führte die Alarmstimmung in Wirtschaft und Politik zu einem 200 Milliarden Euro großen „Abwehrschirm“ und seinen Kernelementen: den Preisbremsen für Gas, Fernwärme und Strom. Bleiben die Preise so niedrig, dann dürfte deutlich weniger Geld für die staatlichen Kostenbremsen benötigt werden als eingeplant. Nach Einschätzung der Bundesnetzagentur haben das milde Winterwetter und mehr Windenergie zum geringeren Gasverbrauch in Deutschland geführt. Hinzu kommen rekordhohe LNG-Importe, überdurchschnittliche Speicherstände und ein sehr geringer Gasverbrauch für die Stromerzeugung. Die Situation hat sich also verbessert, sodass sich die Bundesnetzagentur schon jetzt auf den nächsten Winter konzentrieren kann.
Die sinkenden Gaspreise und die sich ein wenig aufhellenden Konjunkturprognosen haben auch die Stimmung in der chemischen Industrie verbessert. Die großen Unternehmen sind an der Börse stark ins neue Jahr gestartet. Die US-Bank JPMorgan Chase hat sich noch einmal genauer mit der Chemiebranche befasst – und ist zuversichtlich gestimmt. So könnten zum Beispiel Kosteneinsparungen bei der Energie an die Kunden weitergegeben werden. Doch insgesamt bleiben große Unsicherheiten. Es lässt sich kaum vorhersagen, wie sich die Preise weiterentwickeln – sie bleiben volatil. Die Lage in der Ukraine bleibt weiterhin angespannt.
In naher Zukunft könnte sich die Situation verschärfen – und der nächste Winter schwieriger werden. Eine weitere Verschlechterung des internationalen Marktumfeldes kann nicht ausgeschlossen werden. Auch über den Konjunkturaussichten für China stehen große Fragezeichen. Sind die Unsicherheiten groß, werden Investitionen aufgeschoben und damit Wettbewerbsfähigkeit eingebüßt. Auch wenn die Bundesregierung optimistische Prognosen über die energiepolitische Situation veröffentlicht, so hat Deutschland für die Zukunft immer noch ein Stromproblem.
Nimmt man die Sorgen des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) vor einer Rezession hinzu, so bleibt die Entwicklung für Wirtschaft und Gesellschaft spannend: Anhaltende Inflation, steigende Zinsen und Energiekosten sowie eine zunehmend verschärfte Wettbewerbssituation führen dazu, dass die deutsche Volkswirtschaft mit gewaltigen Wohlstandsverlusten rechnen muss. 2023 werden wir also nach wie vor mit großen Herausforderungen konfrontiert sein. Die chemisch-pharmazeutische Industrie kämpft nach wie vor mit dem Auftragsmangel, gestörten Lieferketten und hohen Energiekosten. Erfreulicherweise sieht die Politik den dringenden Handlungsbedarf. Auch im Jahr 2023 wird es für unsere Branche darum gehen, den konstruktiven Dialog mit Bundesregierung und den politischen Parteien fortzuführen.
Dr. Birgit Schwab
1. Vorsitzende des VAA