VAA: 100 Jahre – und kein bisschen leise
Vieles ist gleichgeblieben, manches hat sich verändert: 100 Jahre nach seiner Entstehung hat sich der VAA nicht nur zu Deutschlands größtem Fach- und Führungskräfteverband gemausert. Vielmehr gewinnt die Interessenvertretung gerade in Zeiten der Globalisierung und Digitalisierung mehr und mehr an Gewicht; wenngleich dadurch auch neue Herausforderungen entstehen.
Mit ursprünglich weniger als 2.000 Mitgliedern gestartet, zählt der VAA mit rund 30.000 Führungskräften mittlerweile ein Vielfaches davon. Die Berufsgruppen sind dabei zwar bunt gemischt: Sie reichen von Chemikern und Ingenieuren über Pharmazeuten und Ärzte bis hin zu Biologen. Gleichzeitig ist den Verbandsmitgliedern jedoch vor allem eines gemeinsam: Sie möchten sich als dritte Kraft neben Arbeit und Kapital behaupten und somit den Fach- und Führungskräften in der Chemie zu mehr Gewicht verhelfen.
Dieser Gedanke lässt sich bis zu den Anfängen des Verbands zurückführen. Am 10. Mai 1919 hatten sich rund 1.600 Chemiker und Ingenieure in Halle an der Saale zum sogenannten Budaci, dem Bund angestellter Chemiker und Ingenieure, zusammengeschlossen. Ihr Ziel war es vor allem, endlich auch höheren Angestellten in der Branche eine Stimme zu verleihen. Denn: Wurden bis dato zwar die Interessen der Arbeiter von der Zentralarbeitsgemeinschaft vertreten, konnten leitende Angestellte auf kein entsprechendes Organ zurückgreifen. Wie wichtig diese Stimme sein sollte, zeigte sich bereits ein Jahr darauf: 1920 erreichte der Budaci in Verhandlungen mit dem Arbeitgeberverband den ersten „Reichstarifvertrag für akademisch gebildete Angestellte der chemischen Industrie“. Dieser legte nicht nur die Arbeitszeit der Chemiker und Ingenieure sowie ihren Urlaubsanspruch erstmals tariflich fest: Der Vertrag ist bis heute noch in abgewandelter Form gültig.
Mit diesem Erfolg im Rücken stiegen schließlich auch die Mitgliedszahlen in den 1920er Jahren stetig an und kratzten gegen Ende der Dekade bereits an der Marke von 8.000. Wirklich davon profitieren konnte der Verband jedoch nicht: Bereits kurze Zeit nach der Machtübernahme durch die NSDAP wurde die Interessenvertretung 1933 aufgelöst. Erst gute 15 Jahre später kam es in Leverkusen schließlich zunächst zur Neugründung unter neuem Namen: VAA – und 1954 dann auch zu dessen gerichtlicher Anerkennung als Rechtsnachfolger des Budaci. Es folgten weitere Meilensteine: Nachdem der Deutsche Bundestag 1976 das Mitbestimmungsgesetz verabschiedet hatte, erhielten leitende Angestellte von nun an einen Sitz in den Aufsichtsräten der entsprechenden Unternehmen. Zwölf Jahre später kam es zur Verabschiedung des Sprecherausschussgesetzes, wonach leitende Angestellte in der Branche ihre eigenes Vertretungsgremium erhalten.
Nach dem Ende der DDR schlossen sich 1991 der mit tatkräftiger Unterstützung des VAA ein Jahr zuvor gegründete Verband der Führungskräfte der chemischen Industrie der DDR (VFCI) und der VAA zusammen. Daran lässt sich auch einer der wesentlichen Leitgedanken des VAA ablesen: Auch wenn es verschiedene Interessenvertretungen innerhalb der Chemiebranche gibt, sollten diese nicht gegeneinander, sondern miteinander arbeiten. Entsprechend pflegt der Verband einen intensiven Kontakt zu seinen Sozialpartnern BAVC und IG BCE – und lebt die These: Lagerdenken ist fehl am Patz. Ohnehin sieht sich die Branche in Zeiten der Digitalisierung und Globalisierung mit zahlreichen Herausforderungen konfrontiert. Während jahrzehntelang neue Technologien die Chemie vorangetrieben haben, fällt dieser Motor aktuell faktisch aus: Die Branche ist förmlich „austechnologisiert“. Stattdessen stehen heute vor allem die Faktoren Kostenoptimierung und Effizienzsteigerung auf den To-do-Listen der Unternehmen und schmälern den Einfluss der Naturwissenschaftler zugunsten der Kaufleute.
Darüber hinaus mag die Digitalisierung zwar dazu beitragen, dass sich die Aufgabenfelder der einzelnen Mitarbeiter stetig erweitern. Gleichzeitig fühlen sich viele Arbeitnehmer angesichts der zunehmenden Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung mitunter überfordert und orientierungslos. Hier bedarf es weiterhin einer starken Führung – einer Führung, die weniger Probleme löst als vielmehr motiviert und die Mitarbeiter anleitet. Zudem werden viele Teile der Wirtschafts- und Sozialpolitik der nationalen Kontrolle entzogen und Entscheidungen zunehmend global gefällt. Das mag zwar einerseits die Handelsbeziehungen zwischen den Ländern erleichtern. Jedoch müssen dabei die lokalen und regionalen Betriebsräte und Sprecherausschüsse in den Unternehmen sehen, wie sie mit den weltweit festgelegten Rahmenbedingungen zurechtkommen.
Die Beispiele zeigen: Die Chemiebranche befindet sich im Umbruch. Die Welt von heute lässt sich nicht mehr mit der von vor hundert Jahren vergleichen. Einiges hat sich dabei verbessert, für so manch neue Herausforderung müssen jedoch erst neue Lösungen geschaffen werden. Dazu will der VAA seinen Beitrag leisten. Und dafür sorgen, dass eine Führungskultur entwickelt wird, die gleichauf ist mit dem globalen und digitalen Wettbewerb.
Gerhard Kronisch, Hauptgeschäftsführer des VAA