100 Jahre VAA: eine bewegte Geschichte
Rainer Nachtrab, 1. Vorsitzender des VAA, zeichnete bei seiner Festrede zum 100-jährigen Bestehen des VAA die Entstehungsgeschichte des Verbandes nach. Einen Auszug der Rede veröffentlicht der VAA Newsletter.
Wir feiern heute das 100-jährige Bestehen des VAA. Heute ist der VAA ein anderer als 1919, vor 100 Jahren. Die Arbeitsbeziehungen haben sich dramatisch gewandelt, die Welt ist eine andere geworden, und doch ist manches gleichgeblieben. Die chemische Industrie war und ist ein Grundpfeiler der deutschen Wirtschaft. Und unsere Fach- und Führungskräfte haben maßgeblichen Beitrag an diesem Erfolg. […]
Als sich im Mai 1919 eine Gruppe von Chemikern und Ingenieuren in Halle an der Saale trifft, um sich zu einer Vereinigung zusammenzuschließen, ahnt noch keiner von ihnen, welche Bedeutung diese Organisation einmal haben wird. Der Verband, den sie gründen wollen, soll sich für die wirtschaftlichen, sozialen und rechtlichen Belange seiner damals 1.600 Mitglieder einsetzen. Sein Name: Bund angestellter Chemiker und Ingenieure, kurz Budaci. Der Budaci, der Rechtsvorgänger des VAA, gründet sich in einer Zeit großer Umwälzungen. In ganz Europa waren mit dem 1. Weltkrieg die Lichter ausgegangen und es sollte mehr als 30 Jahr dauern, bis sie wieder angingen. Millionen Deutsche und Europäer stehen vor einer unglaublichen, fast übermenschlichen Aufgabe: dem Neuaufbau nach dem 1. Weltkrieg. […]
Nach dem Krieg ist vieles anders. Die Reichsregierung muss Zugeständnisse an die Arbeiterschaft machen, um Unruhen zu vermeiden. Die Industriellen fürchten einen Umsturz. Die Arbeiterschaft organisiert sich in Gewerkschaften. Tarifliche Vereinbarungen werden unausweichlich. Die höheren Angestellten, die über ihr Jahresgehalt definiert wurden, werden von den Gewerkschaften aber nicht vertreten. Damit stecken die Akademiker in der chemischen Industrie in einem Dilemma. Sie laufen Gefahr, in diesem Verteilungskampf zwischen Arbeiterschaft und Industriellen zerrieben zu werden. Das ist der Nukleus zur Gründung des Budaci, des heutigen VAA.
Als sich am 10. und 11. Mai 1919 angestellte Chemiker und Ingenieure treffen, um die erste und einzige Akademikergewerkschaft zu gründen, nehmen sie zu diesem Datum ihr wirtschaftliches und soziales Schicksal selbst in die Hand. Und sie definieren schon damals ihre Position, die auch heute noch Gültigkeit hat. Sie sind angestellte Akademiker. Sie wollen weder ausschließlich Arbeit noch Kapital sein. Sie definieren sich anders. Sie sehen sich in der Mitte. Ihr Selbstverständnis ist am Fortschritt und am allgemeinen Wohlstand orientiert, nicht an Höchstarbeitszeiten. Diese dritte Kraft findet damit ihren Verband. Schon damals ist dieser Kampf um die Sichtbarkeit der außertariflichen und der leitenden Angestellten ein Kampf derjenigen, die überzeugt sind, dass sie etwas zu sagen haben. Und dass sie es aus der Verantwortung für Arbeit, Wirtschaft und Gesellschaft auch sagen müssen. Dann folgt die Katastrophe – der 2. Weltkrieg – und die Zerstörung Europas. Nach der Gleichschaltung in der Nazizeit und der Auflösung des Budaci inklusive der Liquidation des Verbandsvermögens organisieren sich die Chemiker und Ingenieure nach Kriegsende 1946 neu – und zwar als angestellte Akademiker innerhalb der Gewerkschaft Chemie-Papier-Keramik.
Die Nachkriegszeit ist eine Zeit der großen Um- und Aufbrüche. Am 20. Juni 1948 bekommt die Bundesrepublik Deutschland eine neue Währung, die Deutsche Mark. Die Weichen Richtung Soziale Marktwirtschaft sind gestellt. Eine Grundsatzentscheidung. Und wieder ein Moment, in dem sich die Chemiker und Ingenieure bemerkbar machen und eine Richtungsentscheidung treffen müssen. Die Einheitsgewerkschaft DGB wurde 1947 gegründet. Unter ihrem Dach versammelten sich autonome Industriegewerkschaften, darunter die IG Chemie. Der DGB will diese Soziale Marktwirtschaft nicht. Er will die Sozialisierung. Mit einem Streik will er das erzwingen. Das aber wiederum wollen die Akademiker der Chemie nicht. Sie sind nicht davon überzeugt, dass es gut ist, die Wirtschaft zu sozialisieren. Und sie werden dafür schon gar nicht erst kämpfen. Es kommt zum Bruch. Die Akademiker verlassen die IG Chemie und gründen am 26. November 1948 in Leverkusen den Verband angestellter Akademiker, den VAA.
Unmittelbare Nachkriegszeiten sind Zeiten der Entscheidung. Zeiten, in denen neue Wege begangen werden müssen. Ich will die Situation nach den beiden Weltkriegen, die wie Gebirge in die Landschaft des 20. Jahrhunderts ragen und ihm seine Gestalt gaben, nicht mit der Zeit von heute vergleichen. Nein, 2019 ist nicht 1919. Und 2019 ist auch nicht 1949. Aber die Herausforderungen, denen wir heute gegenüberstehen, sind nicht weniger bedeutend. Sichere Energie- und Rohstoffversorgung, Klimawandel, nachhaltiges Wirtschaften, soziale Herausforderungen. Das sind nur einige Stichworte, die unser Zeitalter der Globalisierung und Digitalisierung kennzeichnen.
Die Konsequenzen dieses Wandels werden genauso tiefgreifende Folgen auf unser Leben haben, wie die des Umbruchs nach den beiden Weltkriegen. Es gibt viele Anzeichen dafür, dass die Bevölkerung diesen Wandel spürt und mit wachsender Unsicherheit und einer Haltung des Rückzugs darauf reagiert. Zu groß scheint das Ausmaß des Versagens zu sein, das es in den letzten Jahren sowohl in vielen Führungsetagen in den Unternehmen als auch in der Politik zu bestaunen gab. Die Menschen reagieren erbost darauf. Sie erwarten gute Führung in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Kluge Führung hat sich in ihrem Wesen nicht geändert: Heute wie damals bedeutet sie nichts anderes, als Verantwortung zu übernehmen und klare Orientierung zu geben.
Die Zukunftsaussichten des VAA sind sehr gut. Davon bin ich fest überzeugt. Der VAA wächst, weil die Zahl der Außertariflichen wächst. Wir sind ein starker Verband und ein starkes Team. Und wir haben Leidenschaft.
Rainer Nachtrab ist seit 2017
1. Vorsitzender des VAA.