Tarifpluralität vor der Tür?
Das Bundesarbeitsgericht (BAG) steht möglicherweise vor einer richtungsweisenden Änderung seiner Rechtsprechung zum Prinzip der Tarifeinheit.
Nach Ansicht des Vierten Senats des BAG verstößt die Auflösung der Tarifpluralität in Betrieben mit gleichzeitiger Bindung an verschiedene Tarifverträge gegen das Grundrecht der Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG). Demnach gelten die Rechtsnormen der konkurrierenden Tarifverträge zwingend und unmittelbar. So darf ein Tarifwerk nicht durch den Grundsatz der Tarifeinheit von einem anderen Tarifvertrag verdrängt werden.
Doppelte Tarifbindung
In diesem konkreten Fall hatte ein Arzt geklagt und von seinem Arbeitgeber, einem Krankenhaus, für den Monat Oktober 2005 einen Urlaubsaufschlag gefordert. Dieser stand dem Mitglied des Marburger Bundes (MB) gemäß den Bestimmungen des für ihn gültigen Bundesangestelltentarifvertrages (BAT) zu. Das Problem: Der Arbeitgeber, Mitglied in der Vereinigung der Kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA), hatte mit der Gewerkschaft ver.di einen neuen Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD) ausgehandelt, der zum 1. Oktober 2005 in Kraft trat. Da der Marburger Bund den TVöD, anders als zuvor den BAT, nicht mehr mitunterzeichnet hatte, war das Krankenhaus ab Oktober 2005 gegenüber Mitgliedern des MB an den BAT und zugleich an den TVöD unmittelbar tarifgebunden. Erst zum 1. August 2006 trat ein neuer, zwischen VKA und Marburger Bund geschlossener Tarifvertrag für Ärztinnen und Ärzte (TV-Ärzte) in Kraft. Der Arbeitgeber verweigerte dem Kläger die Zahlung des Urlaubsaufschlags und verwies auf den Grundsatz der Tarifeinheit, der die für den Zeitraum von Oktober 2005 bis August 2006 im Betrieb bestehende Tarifpluralität auflöste. Aus Sicht des Krankenhauses wurde der gültige BAT vom TVöD als dem spezielleren Vertrag verdrängt.
Der Vierte Senat des BAG plant nun, der Argumentation des Klägers zu folgen. Laut Auffassung des Vierten Senats bestehe keine gesetzliche Regelung für die Verdrängung eines Tarifvertrages.
Eine Gesetzeslücke, die im Falle von Tarifpluralität zu einer Rechtsfortbildung berechtige, gebe es ebenfalls nicht. In der Tat ist der Grundsatz der Tarifeinheit nicht im Tarifvertragsgesetz erwähnt. Dieses Prinzip kam erstmals 1957 in einer Entscheidung des BAG zum Tragen und hatte den eher praktischen Hintergrund, die Tarifpolitik möglichst übersichtlich zu gestalten.
Der Beschluss vom 27.01.2010 (Az. 4 AZR 549/08 (A)) kündigt eine Kehrtwende nach jahrzehntelanger Praxis in der Rechtsprechung zur Tarifeinheit an. Eine abschließende Entscheidung steht aber noch aus: Da der Vierte Senat von der bisherigen Rechtsauffassung des Zehnten Senats abweicht, wurde nun der Zehnte Senat in einer sogenannten Divergenzanfrage um eine Stellungnahme gebeten. Der Zehnte Senat kann den Argumenten des Vierten Senats entweder folgen oder eine Grundsatzvorlage an den Großen Senat in die Wege leiten. Nimmt sich der Große Senat des Themas an, wird eine Entscheidung voraussichtlich im kommenden Jahr ergehen.
Positive Ergänzungskonkurrenz
Die Aufhebung der Tarifeinheit hätte weitreichende Folgen für die Tariflandschaft und die jeweiligen Tarifpartner – Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände. Während letztere eine Zersplitterung der Belegschaft sowie permanente Arbeitskämpfe einzelner Berufsgruppen befürchten, sehen sich kleinere Gewerkschaften in ihren Positionen gestärkt. Tarifpluralität kann mittelfristig allerdings den Druck auf Spartengewerkschaften erhöhen, vermehrt Tarifgemeinschaften zu bilden. Das Ende der Tarifeinheit würde wohl auch politische und gesellschaftliche Diskussionen über grundlegende Änderungen im Arbeitskampf- und Betriebsverfassungsrecht anstoßen. Der VAA bestimmt sein Verhältnis als positive Ergänzungskonkurrenz, die von verantwortungsbewusstem Handeln auf beiden Seiten geprägt ist.