Zwischen Bonus, Feedback und Kultur: Wohin steuert die Leistungsbeurteilung?
Transparenz, Fairness und Wirksamkeit – an diesen Maßstäben sollten sich gute Performance-Management-Systeme messen lassen. Doch wie steht es darum in den Unternehmen der Chemie- und Pharmabranche? Welche Erfahrungen machen Fach- und Führungskräfte? Im Interview mit dem VAA diskutieren Prof. Christian Grund von der RWTH Aachen, die Vorsitzende der VAA-Kommission Führung Katja Rejl und der Vorsitzende der VAA-Kommission Einkommen Dr. Hans-Dieter Gerriets über gute Leistungsbeurteilungen und den Nachholbedarf in der Industrie.
VAA: Herr Grund, was unterscheidet heutiges Performance Management von den Systemen vor zwanzig Jahren?
Grund: Die Landschaft ist heterogen. Unternehmen stehen an unterschiedlichen Punkten, abhängig von Kultur und Reifegrad. Man sieht Zyklen: Ein Problem wird gelöst, es entstehen Folgeprobleme, dann wird gegengesteuert. Ein Beispiel sind frühere Forced-Distribution-Ansätze: Unterschiede sollten sichtbarer werden, die Nebenwirkungen führten aber vielerorts zum Rückbau. Gleichzeitig ist Performance Management heute strategischer ins Unternehmen eingebettet als früher, aber mit Licht und Schatten. Systeme werden heute stärker mit Unternehmensstrategie verknüpft, was Vorteile hat, aber auch zu Überfrachtung führen kann.
Herr Gerriets, Sie sind erst vor Kurzem nach vielen Jahren bei Lanxess in den Ruhestand getreten. Sehr viele Jahre haben Sie mit der VAA-Kommission Einkommen das Thema begleitet. Wie erleben Sie diese Entwicklung?
Gerriets: Ganz früher, vor der Ausgliederung von Lanxess, gab es bei meinem damaligen Arbeitgeber bis ins kleinste Detail formulierte Zielvereinbarungen. Nicht selten auf Basis von bis zu einem Dutzend Einzelzielen, die wiederum mit unterschiedlichen Prozentsätzen gewichtet wurden. Zum Termin des Zielreviews bat mich der Chef um einen Vorschlag, bei dem ich einmal rechnerisch auf 104,8 Prozent Zielerreichung kam. Der Chef unterbrach sofort und sagte: „Alles, nur nicht über 100.“ Da war das System für mich erledigt. Solche Rechenexzesse haben das Vertrauen in die Systeme stark beschädigt. Später dann habe ich auch Gegenentwürfe erlebt: Weg von überdrehten Algorithmen, hin zu mehr Einfachheit und Nachvollziehbarkeit, was in der Belegschaft hervorragend ankam. Andererseits hängt heute viel mehr Geld an der Bewertung als vor 30 Jahren: Boni sind nicht mehr nur ein Zubrot. Das verändert das Spiel.
Rejl: Oft wird Performance Management als eine Art Krücke genutzt, um Defizite in der Führungskultur zu kompensieren – als Zwang, endlich Dialoge zu führen. Früher schon gab es sehr ausgeklügelte Zielsysteme bis in operative Bereiche, teils fraglich in der Sinnhaftigkeit. In der Beratung wiederum dominieren KPIs und Sales, Zielgespräche sind oft Kür statt Pflicht. Jetzt ist das Bild eher durchmischt. Und immer wieder zeigt sich der übergroße Fokus auf Bonus statt auf Führung und Entwicklung. Genau da entsteht Frust. Denn Mitarbeitende fragen nach Anerkennung und Entwicklung, bekommen aber nur eine Zahl.
Grund: Performance hat mehrere Dimensionen: Fähigkeit, Anstrengung, Ergebnis. In der Beratung sind sogenannte Billable Hours eine dominante KPI; in vielen anderen Jobs ist die Messbarkeit nicht so klar. Darum braucht es eine belastbare Feedback- und Gesprächskultur – formell und informell. Die Evidenz zeigt: Schon allein regelmäßige Mitarbeitergespräche steigern die Zufriedenheit, das Engagement und das Commitment. Schon ein zusätzliches Gespräch pro Jahr kann messbare Effekte erzeugen. Spannend ist auch die Forschung, wonach kollektiv verknüpfte Bonussysteme häufig besser funktionieren als rein individuelle.
Und es gibt Fehlschläge: Ein Feldexperiment zur Anwesenheitsprämie ließ Normen erodieren – die Abwesenheit stieg. Entscheidend ist die kulturelle Passung. Denn was in den USA funktioniert – etwa Auszeichnungen zum „Mitarbeiter des Monats“ –, stößt in Deutschland eher auf Ablehnung.
Ziele ändern sich, Krisen wie in den letzten Jahren zeigen das brutal auf. Werden Ziele bei Schocks angepasst?
Gerriets: So gut wie nie. Erst kam Corona, dann der Krieg – jedes Mal waren Jahresziele plötzlich Makulatur. Gab es dann unterjährige Anpassungen? In 36 Dienstjahren habe ich das kaum erlebt. Stattdessen hieß es oft: Augen zu und durch, auch wenn Ziele objektiv nicht mehr erreichbar waren und ganz andere Themen hätten Beachtung finden müssen.
Grund: Das befördert im Übrigen relative Systeme: Wenn alle gleichermaßen vom Schock betroffen sind, bleibt die Relation – man spart sich Anpassungen. Aber solche relativen Verfahren bringen wiederum eigene Nebenwirkungen mit. Genau diese Schleifen sehe ich immer wieder.
Was raten Sie der Branche? Gibt es eigentlich so eine Art Vorbildsystem, das oft funktioniert?
Grund: Pauschale Empfehlungen sind schwierig. Theoretisch ließe sich die VAA-Befindlichkeitsumfrage mit den Einkommensdaten hervorragend kombinieren: Das gäbe spannende Einblicke, wird aber aktuell nicht gemacht, weil die Zusammenführung der Datensätze problematisch ist. Anhand anekdotischer Evidenz werden in einigen Unternehmen kollektive Maße mit geringer Spreizung von Einzelunterschieden positiv wahrgenommen. In US-Firmen fühlten sich Top-Performer in solchen Settings teilweise unterwertschätzt. Es hängt wieder alles an der Einbettung und der Unternehmenskultur.
Rejl: Oh ja, denn dieses sogenannte Low-Performer-Management gelingt nur mit einem funktionierenden Prozess. Ohne den richtigen Prozess verschwinden Menschen im Rauschen – geholfen ist ihnen damit nicht. Und selbst wenn „Forced Distribution“ offiziell verschwinden mag, wird sie nicht selten informell doch weiter gewünscht sein – mit den bekannten Effekten. Gute Führung heißt eben auch, die Rollen zu schärfen, Aufgaben neu zuzuschneiden und notfalls einen Team- oder Vorgesetztenwechsel zu ermöglichen.
Gerriets: Am Ende steht und fällt viel mit der Führungskraft. Wer Mitarbeitende entwickeln will, muss häufig intern kämpfen, und zwar manchmal durch mehrere Ebenen und teilweise bis hoch in den Vorstand. Es kostet Energie, konsequent Feedback zu geben und für Gehaltserhöhungen seiner Mitarbeitenden in der eigenen Linie einzutreten. Das weiß ich aus meiner aktiven Zeit als Vorgesetzter und Sprecherausschuss nur zu gut. Manche kleben dann eben ihre monetären „Pflaster“. Das sind dann kleine Boni statt echter Korrekturen beim Gehalt. So verliert man Leute zur Konkurrenz um die Ecke.
Die vollständige Fassung des Interviews wurde in der Oktoberausgabe des VAA Magazins veröffentlicht.









