Der langsame Weg zur Wirklichkeit
Ganz langsam und offensichtlich unter großen Schmerzen kommt die Ampel in der energiepolitischen Wirklichkeit an. Die ersten Vorschläge der Gas-Kommission zur Gaspreisbremse sind ein wichtiger erster Schritt, der vielen Unternehmen die Hoffnung eröffnet, die aktuelle Energiekrise zu überleben. Auch die Ampel hat erkannt, dass hier und heute gehandelt werden muss, damit die Industriestruktur in Deutschland gesichert werden kann. Wir fordern, dass die Details der Regelungen schnellstmöglich ausgearbeitet werden, da die Unternehmen dringend auf Planungssicherheit angewiesen sind.
Die Gaspreisbremse, die auch vielen privaten Haushalten zugutekommt, hat zwar auch Kritik hervorgerufen. So konnte man in Deutschland hören, das Modell bevorzuge überproportional wohlhabendere Menschen. Kann sein, muss man prüfen und in Zukunft vielleicht verbessern. Wichtiger ist etwas anderes. IG-BCE-Chef Michael Vassiliadis hat zurecht darauf verwiesen, dass in der aktuellen, krisenhaft zugespitzten Situation Schnelligkeit vor Genauigkeit und Einzelfallgerechtigkeit geht.
In der EU hörte man die Kritik, die Vorschläge der Kommission wären nicht solidarisch mit dem Rest Europas, der über weniger Mittel verfüge und sich eine solche Regelung nicht leisten könne. Auch diese Kritik greift zu kurz. Zum einen ist Deutschland ganz besonders abhängig von Erdgas und erfüllt als wirtschaftlicher Motor Europas eine wichtige Funktion für alle europäischen Länder. Niemand könne sich ernsthaft wünschen, dass das europäische Zugpferd schwächle, schrieb die Neue Züricher Zeitung, die zu anderen Anlässen gelegentlich hart mit der deutschen Europa- und Energiepolitik ins Gericht geht. Im Übrigen sind großzügige staatliche Hilfen für Privathaushalte und Unternehmen auch in anderen EU-Staaten gängige Praxis, so in Frankreich, wo die Industrie seit Jahren von niedrigen Energiepreisen profitierte. Zugleich gibt es dort Hilfen für private Gasverbraucher.
Die deutsche Ampel-Politik benötigt eine Rosskur in Realismus. Dass die Opposition dermaßen schwächelt, ist eine Chance für die Ampel, aber nicht für die Deutschen. Die Gaspreisbremse ist ein erster Schritt in die richtige Richtung, andere sind nötig. Schließlich bleibt die dramatische Angebotsverknappung beim Erdgas für Jahre ein Problem, nicht nur bis zum Frühjahr 2024. 90 Milliarden oder am Ende gar 200 Milliarden können dieses dramatische Grundproblem nicht wegsubventionieren. Wir müssen also viel mehr Gas einsparen und vor allem neue Bezugsquellen erschließen. LNG-Produzenten müssen langfristige Perspektiven eröffnet werden, um ihre Produktionskapazitäten auszubauen. Die kurzfristige Betrachtung von LNG als Übergangslösung grenzt an Realitätsverweigerung der Ampelregierung wie schon in der Frage der Verlängerung der AKW-Laufzeiten.
Auch die heimische Gasproduktion sollte unverzüglich angegangen werden. Deutsche Doppelzüngigkeit auf diesem Gebiet ist kaum zu ertragen: Grüne und SPD halten daran fest, eine Ausweitung der heimischen Gasproduktion zum Tabu zu erklären. Gleichzeitig fordern sie etwa von den Niederländern eine Erhöhung der Förderung. Dieser verlogenen Moral kann man nur die Stimme von Vassiliadis entgegensetzen. Er fordert, das umstrittene Thema Fracking neu zu bewerten. Beim Fracking wird Gas gewonnen, indem mit hohem Druck Flüssigkeit in die Erde gepumpt wird, um Gestein aufzubrechen. Es passe nicht zusammen, Fracking-Erdgas aus den USA haben zu wollen und das Fracking in Deutschland grundsätzlich auszuschließen, sagt er. Dem ist nichts hinzuzufügen.
Schritt für Schritt nähert sich die Ampel der Wirklichkeit an. Übrigens auch die Opposition, die keine Alternative bietet. Für jeden Gewinn an Realismus können die Deutschen nur dankbar sein. Der Weg wird lang und steinig sein. Bereiten wir uns darauf vor.
Stephan Gilow
Hauptgeschäftsführer des VAA
