Treibhausgasneutrale Chemie: Mehr Tempo nötig!
Auch wenn es der russische Präsident Wladimir Putin nicht beabsichtigte: Mit seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine hat er auch die europäische Energiepolitik vorangebracht. Deutschland und die Europäische Union setzen alle möglichen Hebel in Bewegung, um von Kohle, Erdöl und Erdgas aus Russland unabhängig zu werden. Eines der wichtigsten Ziele ist dabei der Ausbau der erneuerbaren Energien.
Mit dem Gesetzespaket zum Ökostrom hat die Bundesregierung die größte energiepolitische Novelle seit Jahrzehnten eingeleitet. Sie soll das Ende der fossilen Stromgewinnung in Deutschland einleiten. Statt aus Atom, Gas und Kohle soll schon bald nur noch Strom aus Wind, Sonne und Biomasse durch die deutschen Netze fließen. Bereits in zwölf Jahren soll dieses Ziel erreicht werden. Schon bis 2030 sollen 80 Prozent der Stromerzeugung erneuerbar sein.
Die Ziele der Bundesregierung decken sich mit denen der chemisch-pharmazeutischen Industrie: Sie will bis Mitte des Jahrhunderts treibhausgasneutral werden. Um das zu erreichen, darf die Bundesregierung jedoch nicht auf halber Strecke stehenbleiben. Um einen so großen Wurf umzusetzen, müssen auch Planungs- und Genehmigungsverfahren beschleunigt werden. Dazu gibt es im Osterpaket erste gute Schritte beim Ausbau der Netze und mit der Ankündigung, im Sommer die Ausweisung von Flächen für Windparks voranzutreiben.
Darüber hinaus ist es wichtig, dass die Beschleunigung der Verfahren auch auf Industrieanlagen ausgeweitet wird. In Deutschland sollte die unterschiedliche Geschwindigkeit bei Genehmigungsverfahren so schnell wie möglich beendet werden. Vorbild kann hier das Vorgehen der Behörden beim Bau der E-Autofabrik in Brandenburg sein. Dort war es möglich, mit dem Bau der Fabrik vor der endgültigen Genehmigung zu beginnen. Das sollte auch mit Blick auf LHG-Terminals, Pipelines, Windkraft- und Industrieanlagen möglich sein.
So erfreulich die Fortschritte auf dem Gebiet der Stromproduktion sind, so ist sie doch nur ein Sektor, in denen die Energiewende bis 2030 erheblich vorankommen muss, soll sie im Ganzen gelingen.
Der Verkehrssektor, der Gebäudebereich und die Landwirtschaft sind im aktuellen Osterpaket noch nicht berücksichtigt worden. Beide Sektoren haben im vergangenen Jahr ihre Klimaziele verfehlt. Möglicherweise wäre der Fortschritt auf diesen Gebieten besonders groß, wenn es zu einer europäischen Lösung käme und die Bundesregierung sich stärker für die Umsetzung des European Green Deal einsetzte.
Angesichts des großen Bedarfs an erneuerbarem Strom rückt eine Branche wieder ins Blickfeld, in der eine Reihe europäischer Unternehmen schon einmal Weltmarktführer waren, bevor China diesen Platz dank einer gezielten Industriepolitik einnahm: die Solarbranche. Noch immer haben europäische Firmen und Forschungszentren die Technologieführerschaft inne.
Zwar gibt es erste Ansätze zur Reanimation einer europäischen Solarindustrie, doch ist das Bewusstsein der Dringlichkeit noch nicht groß genug. Bei der Vorstellung, dass diese gigantischen Modulmengen bei rasant wachsendem Bedarf zum größten Teil aus China kommen, müssten angesichts der gerade erkannten Abhängigkeit von russischem Gas alle Warnlampen angehen. So wäre es sinnvoll, wenn die Europäische Kommission den Aufbau einer eigenen Solarindustrie gezielt fördert, so wie sie das zuletzt bei der Batterietechnik für Elektroautos gemacht hat. Erfreulich ist deshalb, dass sich auf EU-Ebene etwas zu bewegen scheint. Am 20. Mai hat die europäische Solarbranche zusammen mit EU-Energiekommissarin Kadri Simson und Regierungsvertretern aus EU-Ländern, welche die Solarpläne unterstützen, in Brüssel ihre Projekte vorgestellt und für die Aufnahme als „Important Project“ geworben.
Stephan Gilow
Hauptgeschäftsführer des VAA
