Ulrich Kastner - Mit dem Sinn fürs Mögliche
Ein sachlich-stattlicher Schreibtisch. Verschiedene Stapel an Unterlagen. Weiße Wände. Keine Bilder. Workflow-Skizzen am Flip-Chart. Ulrich Kastner, mittelgroß, stammt aus Burgkirchen, wohnt aber mit seiner Frau und seinem Sohn in Reischach. Bayer ist er. Aber: Bajuware durch und durch? Nein, das will der Leiter der zentralen Versorgungstechnik bei Wacker Burghausen nicht gelten lassen - verschmitztes Lächeln. Weltläufigkeit und Heimatliebe, beides prägt ihn.
Ulrich Kastner denkt strategisch. Er ist Verfahrensingenieur mit ausgeprägtem Gespür fürs Soziale. Er hat den speziellen Sinn fürs Mögliche, ob als Techniker oder als Sprecherausschuss- und stellvertretender Konzernsprecherausschussvorsitzender. Spontan lädt er zu einer kurzen Rundfahrt über das Werksgelände ein. Die Form inniger Beschlagenheit, mit der Kastner die jüngsten Investitionsmaßnahmen in Höhe von knapp einer Milliarde Euro am Standort erläutert, kennt man sonst nur bei sehr guten Schlossführern. Während die riesigen Destillationskolonnen – pilzartig scheinen sie hier im vergangenen Jahr aus dem Boden geschossen zu sein - am Autofenster vorbei ziehen, fällt ein kurzer aber aufschlussreicher Nebensatz. Kastner sagt selbstbewusst und zugleich bescheiden: „Ein bisschen, wirklich nur ein kleines bisschen, habe ich schon Anteil daran, dass das alles jetzt hier gebaut wird."
Standortpolitik betreiben
Mit dieser Bemerkung spielt er auf einen Markstein seiner zehnjährigen Amtszeit als VAA-Werksgruppenvorsitzender an, in der die Werksgruppe sich um fast 30 Prozent auf jetzt rund 320 Mitglieder vergrößert hat. Burghausen drohte vor etwa vier Jahren als Standort in der Konzernpolitik der Wacker Chemie AG gegenüber anderen Standorten in Übersee ins Hintertreffen zu geraten. Zu hohe Lohnstückkosten? Der Konzern-Vorstand war in seiner Analyse und Strategie von der allgemeinen Kritik am Standort Deutschland nicht unbeeinflusst. Er hatte die USA in die engere Auswahl für den weiteren Ausbau der Polysiliziumproduktion gezogen. Kastner trieb in dieser Situation die Frage um, wie man die Stärken von Burghausen überzeugend präsentieren kann. „Denn was wir hier als Know-How haben, das kriegst du so leicht nicht woanders. Das sind schon technisch hoch komplexe Prozesse, die wir hier beherrschen.“ Als VAA Werksgruppen-Vorsitzender ist er deshalb zum Betriebsratsvorsitzenden gegangen. Die Chance lag darin, durch ein verlockendes Angebot der Arbeitnehmervertreter für den Standort in die Offensive zu gelangen. Beiden war klar, so kann man wieder ins Rennen kommen. Nur was sollte angeboten werden? Zuerst keine Einigung. Ja, sogar die paradoxe Situation, klarer Konfliktlinien über den Weg, bei Konsens im Ziel. So stand es im Vorfeld der Betriebsratswahlen 2006. Letztlich einigten sich Unternehmensleitung und Betriebsrat auf abgesenkte Gehälter bei Neueinstellungen.
Die Auseinandersetzung zuvor war hart, aber im Ergebnis konstruktiv. Eine eigene Kandidatenliste konnte und wollte der VAA zum Schluss gegen den Widerstand der IG BCE, den Börsengang vor Augen, nicht durchsetzen.
Dafür trat etwas bislang Einzigartiges in der chemischen Industrie an die Stelle: Eine Arbeitsgruppe für Führungskräfte, beschickt aus Betriebsrat und Werksgruppe, wurde vertraglich vereinbart. Mit eigenem Anhörungs- und Erörterungsrecht im Verhältnis zum Arbeitsdirektor. Das Beste ist: Sie funktioniert, bereitete wichtige Umfragen zur Gesundheitsbelastung im AT-Bereich gemeinsam vor und trug viel dazu bei, dass die Beziehungen jetzt wieder eine gemeinsame Liste für die kommende Wahl erlauben. Dabei soll die Arbeitsgruppe auch nach der Wahl 2010 Bestand haben. Das nennt man wirksame AT-Interessenvertretung.
Kastner mag es gern genau. Das merkt man, wenn man mit ihm über seine punktgenauen Unterauswertungen der VAA-Einkommens- und der VAA-Befindlichkeitsumfragen spricht, die bei Wacker regelmäßig mit dem Vorstand besprochen werden. Dieser institutionalisierte Dialog: Sicherlich eines der Geheimnisse, das zur jüngsten Auszeichnung mit dem Kölner Chemie-Preis beiträgt.
Aber Kastner ist zugleich das Gegenteil eines Pedanten. Das wird rasch klar, wenn er von seinen zahlreichen Hobbys und vor allem von der Musik erzählt. Ob Trompete, Saxophon, Klarinette oder Bass, er spielt alles, bis 1999 trat er sogar semiprofessionell auf. Noch heute lacht er, wenn er sich an die Abiturklausur im Bio-Leistungskurs erinnert. „Was war mein Lehrer begeistert, dass ich endlich mal in weißem Hemd und schwarzer Hose erschienen war!“, erzählt er. „Ich musste ihn aber enttäuschen. Das war nur, weil ich unmittelbar nach der Klausur bei einer Hochzeit spielen sollte. Dann habe ich schnell geschrieben, damit ich eine Stunde vorher aus der Prüfung konnte, um rechtzeitig zum Auftritt zu kommen“. Dass der junge Tonkünstler in der Eile die vierte Aufgabe der Reifeprüfung glatt übersehen hat, tat seinem späteren beruflichen Erfolg offenkundig keinen Abbruch.