Chemie 4.0 braucht Risiko mit Augenmaß
Für den VAA steht das Jahr 2016 ganz im Zeichen des Schwerpunktthemas Innovation. Bereits auf der Abendveranstaltung im Vorfeld der diesjährigen VAA-Delegiertentagung Ende April in Fulda hat ein hochkarätig besetztes Expertenfeld intensiv über die Bedeutung disruptiver Elemente für den industriell-technologischen Fortschritt diskutiert. Und in knapp zwei Monaten erscheint mit dem VAA-Jahrbuch 2016 eine weitere fundierte Publikation zu den Herausforderungen, die eine innovativ orientierte Industriepolitik für Unternehmen, aber auch für die Mitarbeiter in den Betrieben vor Ort mit sich bringt.
Heutzutage ist Innovation untrennbar mit dem Megatrend der Digitalisierung verbunden. Das allseits bekannte Schlagwort in diesem Zusammenhang lautet Industrie 4.0. Und wer von Industrie 4.0 spricht, muss folgerichtig auch Chemie 4.0 mitdenken, da die chemisch-pharmazeutische Industrie zu den Schlüsselbranchen in Deutschland gehört. Im Kern des Konzeptes der Chemie 4.0 geht es darum, die Branche fit zu machen fürs digitale Zeitalter und die entsprechenden neuen technologischen Schnittstellen zu schaffen sowie vorhandene zu optimieren. Denn es kommen immer mehr digitale Innovationen auf den Markt – vom 3-D-Druck über neue Produktions- und Vertriebsstrukturen entlang der gesamten Wertschöpfungskette bis hin zu immer feinerer und genauerer Hightech-Sensorik etwa bei der Steuerung des Einsatzes von Pflanzenschutzmitteln.
Aber wie stark wird sich der digitale Wandel auf die Wettbewerbsfähigkeit der Chemie insgesamt auswirken? Dies hat nun eine neue Studie des Beratungshauses Roland Berger untersucht. Erfreulich ist, dass bereits 60 Prozent der Unternehmen erkannt haben, dass sie zunächst einmal überhaupt eine stringente digitale Strategie brauchen. Weniger positiv stimmt jedoch die Tatsache, dass gut der Hälfte der im Rahmen der Untersuchung befragten Firmen die notwendige Kompetenz und Expertise fehlt. Gerade dieser Punkt ist jedoch ein entscheidender Faktor, wenn Unternehmen dauerhaft wettbewerbsfähig bleiben wollen.
Die Studienautoren von Roland Berger identifizieren zwei Lösungswege für Unternehmen: Evolution oder Revolution. Während bei der ersten Option bestehende Technologien und Strukturen an die neuen Anforderungen angepasst werden, verändern sich die Branchenstrukturen beim revolutionären Ansatz komplett.
Der Studie zufolge haben sich rund 70 Prozent der befragten Firmen entschlossen, den evolutionären Weg mit einer schrittweisen digitalen Transformation zu gehen, während Revolution nur von den wenigsten in Betracht gezogen wird – und dann vor allem im Vertriebsbereich. Der Trend geht also ganz klar in die Richtung einer evolutionären Lösung, die maßvoll mit revolutionären Elementen ergänzt wird.
Neben einer zukunftsorientierten Definition ihrer Kernkompetenzen empfehlen die Roland-Berger-Experten den Unternehmen eine gründliche Überprüfung ihrer digitalen Fähigkeiten, ob bei Forschung und Entwicklung, bei der Produktion oder beim Marketing. Wichtig ist dabei auch die rechtzeitige und offene Kommunikation der digitalen Agenda nach innen. Und bei der Anpassung der Unternehmenskultur an die Herausforderungen der Digitalisierung kommt es entscheidend auf gute Führung an.
Hier sind die strategischen Entscheidungsträger auf den unterschiedlichsten Hierarchieebenen gefragt, zu denen ganz besonders auch außertarifliche und leitende Angestellte gehören. Nicht nur die Topmanager, sondern vor allem die Führungskräfte müssen Vision mit Verstand kombinieren, um neue Chancen zu erkennen, die sich durch digitale Technologien eröffnen. Patentrezepte gibt es dafür nicht, aber eine wohlaustarierte Mischung aus Wagemut, Vernunft und Verantwortung kann beim Streben nach dem passenden Zukunftskonzept sicher nicht schaden.
Im Rückenwind der digitalen Disruptionen darf vor allem die Berücksichtigung des Faktors der Beschäftigungssicherheit als strategischer Standortvorteil nicht zu kurz kommen. Genau dies gehört zu den wichtigsten Aufgaben, die der VAA als die Vertretung der Führungskräfte mit breiter Brust wahrnehmen kann und künftig noch stärker wahrnehmen wird.
Gerhard Kronisch, Hauptgeschäftsführer des VAA