Neue Mitte: Grün
Vor der Wahlentscheidung in Nordrhein-Westfalen haben wir erwartet, mit einem klaren Wahlausgang im bevölkerungsreichsten Bundesland würden auch die längsten Koalitionsverhandlungen der Geschichte auf Bundesebene endlich zu Ende gehen. Denn der Eindruck verstärkte sich zusehends, dass der von den Duz-Freunden Angela Merkel, Horst Seehofer und Guido Westerwelle wachsweich formulierte Koalitionsvertrag kaum auf Einigung beruhte. Noch viel weniger stiftet er bislang Einigkeit zwischen den Koalitionären.
Doch die Wählerinnen und Wähler im bevölkerungsreichsten Bundesland haben im Beliebigen des Wünschbaren mäandernde Politiker nicht in die Spur des eindeutig Finanzierbaren geschickt. Sicher ist eines, nämlich gar nichts. NRW aber braucht eine stabile Regierung, und zwar jetzt. Eine Regierung, die sich gerade in Zeiten der Krise ihrer politischen Verantwortung stellt. Die Wirtschaft, insbesondere die Chemie, kann sich keinen Stillstand leisten. Uns stehen spannende Wochen bevor, in Düsseldorf, in Berlin und in Europa.
Apropos Europa: Auch Großbritannien hat vor kurzem gewählt. In einem Land, das wegen seines Mehrheitswahlrechts Koalitionsregierungen praktisch nicht kennt, haben die Koalitionsverhandlungen eine knappe Woche in Anspruch genommen. Und dies bei zwei Partnern, die sich von ihrem politischen Programm alles andere als nahestehen. Eine knappe Woche – man stelle sich das einmal für Deutschland vor! Noch sondieren in Düsseldorf die Damen und Herren, wer mit wem sondieren darf. Wertvolle Zeit verstreicht. Statt Probleme möglichst schnell anzupacken, wird gerungen und taktiert. Manchmal, aber nur manchmal, wünsche ich mir britische Verhältnisse in Deutschland. Etwas mehr common sense.
Betrachten wir das Wahlergebnis in NRW etwas genauer. Es gibt, abgesehen von der Partei Die Linke, die endgültig in den westdeutschen Bundesländern „angekommen“ ist, lediglich einen wirklichen Wahlsieger. Und der heißt Bündnis 90/Die Grünen. Die Grünen haben es geschafft, von allen übrigen Parteien Wähler abzuschöpfen. Auffallend hoch ist dabei der Anteil der sogenannten bürgerlichen Wähler aus den oberen Einkommenssegmenten, vor allem Selbstständige und Mittelständler. Diese gehören eigentlich zur Kernklientel der Liberalen. Aus der einstigen Partei der Ökopaxe scheint sich also ein ökoliberales Konkurrenzmodell zur FDP entwickelt zu haben. Der wahre Gegner für die FDP ist demnach weder rot noch schwarz, sondern grün. Die von Altkanzler Schröder vor zwölf Jahren propagierte „Neue Mitte“ hat einen grünen Anstrich erhalten. Konzentriert auf die wohlhabenden Ballungsräume war sie immer schon. So finden sich die Hochburgen der Grünen in Universitätsstädten wie etwa Bonn, wo sie mittlerweile bis zu einem Drittel der Wähler überzeugen können.
Klammert man die energie- und umweltpolitischen Konzepte aus – freilich die Gretchenfrage aus Sicht der Chemie – so war der entscheidende Unterschied zwischen den beiden Parteien bei dieser Wahl im unterschiedlichen Ansatz zur kommunalen Selbstverwaltung zu suchen. Während für die Wähler der FDP die steuerliche Entlastung des Einzelnen im Vordergrund steht, nehmen Grünen-Wähler gegebenenfalls auch eine höhere steuerliche Belastung in Kauf, um im Gegenzug öffentliche Dienste stärker finanzieren und als Bürger in Anspruch nehmen zu können. Im Grunde geht es um die jeweils individuell wahrgenommene Entlastungs- und Finanzierungsbereitschaft. Die Fragen lauten: Wie hoch ist der Beitrag, den ich zu leisten bereit bin? Wo fängt für mich persönlich die finanzielle Schmerzgrenze an? Welchen Beitrag fordere ich über Steuerentlastungen zurück, wo bevorzuge ich Sachleistungen?
Vor allem einem Thema wird man in Anbetracht dieser gespaltenen Mitte eine bislang noch selten in ihrer Tragweite erkannte politische Zukunftsdynamik beimessen müssen: Der öffentlichen Daseinsvorsorge. Reihenweise sind die Modelle kommunalen Outsourcings zentraler Funktionen der Daseinsvorsorge grandios geplatzt. Die ehemals Kapitalanlagemöglichkeiten suchenden Finanzinvestoren haben auf turbulenten Märkten zu viel Kapital verloren, um ihren Investitionspflichten noch nachkommen zu können. Nun müssen die verarmten Kommunen doch wieder in die Bresche springen und die ausgelagerte Wasseraufbereitung, Stromlieferung oder die Wohnungswirtschaft erneut in Eigenregie erbringen.
In der bürgerlichen Mitte des modernen deutschen Fünfparteiensystems ist es jedenfalls eng geworden. Die Parteien müssen sich – zu Recht – immer stärker anstrengen, um die für ihr jeweiliges Wählerpotential relevanten Themen spezifisch zu besetzen. Die Wähler müssen noch aktiver als bisher umworben werben, auch nach einer Wahl. Parteien haben die Pflicht, den Wählerwillen umzusetzen und sich um diesen zu kümmern. Und wir alle haben die Pflicht, die Parteien an die Wahrnehmung ihrer Pflicht zu erinnern. Das gilt natürlich ebenso für die künftigen Regierungsparteien in Nordrhein-Westfalen.