Steuergerechtigkeit: Wann, wenn nicht jetzt?
Bei jeder Tarifverhandlung sitzen der Staat und Sozialkassen als stille Gäste mit am Tisch. Steigt der Lohn, steigen im Zweifel Einkommenssteuer und Sozialversicherungsbeiträge gleich mit. Ist das recht, billig und gut? Geltendes Recht, das ja. Billig? Im Fall der Sozialversicherungsbeiträge wohl eher als bei den Einkommenssteuern. Mit wachsendem Einkommen steigen die Einkommenssteuersätze progressiv an. Die Beiträge nicht: Sie betragen zusammen immer rund 40 Prozent des Bruttoeinkommens. Dagegen hat nach Berechnungen des Institutes für Arbeit und Wirtschaft an der Universität Bremen allein die sogenannte kalte Progression dem Staat in den letzten fünf Jahren 63 Milliarden Euro in die Kasse gespült! Und damit stellt sich die Frage: Ist das gut? In der Form ist es schlecht.
Wer erwerbstätig ist und Arbeitseinkommen bezieht, trägt genauso zum Gemeinwohl bei wie diejenigen, die ihren Lebensunterhalt aus Kapitalerträgen oder Unternehmensgewinnen bestreiten können, die der Körperschaftssteuer unterliegen. Aber in einer globalisierten Welt gilt die alte Helmut Schmidtsche Formel „Die Gewinne von heute sind die Arbeitsplätze von morgen“ nur noch bedingt. Daher wird die heutige Steuerlastverteilung zusehends problematisch. Sie ist insbesondere deshalb unerfreulich, weil sie noch nicht einmal wirklichem politischen Wollen entspringt. Es ist ja nicht so, dass der Bundesfinanzminister es auf Einnahmen aus der kalten Progression abgesehen hätte. Er nimmt, was kommt, und gut ist. Oder eben nicht gut: Denn hat er erst einmal Mehreinnahmen, braucht er sich um die zentrale Frage der Haushaltskonsolidierung durch Staatsausgabenkritik etwas weniger intensiv Gedanken zu machen. Deshalb ist es gut und richtig, dass die Regierungskoalition mit dieser schleichenden und in wachsendem Maße unbilligen Verschiebung der Steuerlast auf die Erwerbstätigen ein Ende machen will. Es ist bezeichnend, dass die Länder, die an der Einkommenssteuer erheblich partizipieren, auf diese Quelle unverdienter Zusatzeinnahmen nicht verzichten wollen. Dann stellt sich aber die Frage: Wann, wenn nicht im positiven Konjunkturzyklus, sollen solche maßvollen, perspektivisch aber wichtigen Kurskorrekturen vorgenommen werden?
Denn die Wirtschaft brummt, der Arbeitsmarkt wächst – und das sogar allen europäischen Fundamental- und Kollateralkrisen zum Trotz! Laut Statistischem Bundesamt sind zurzeit 41 Millionen Menschen erwerbstätig, während die Arbeitslosenquote bei – nicht nur im EU-Vergleich – bescheidenen 7,2 Prozent liegt. Und das ist längst noch nicht alles: Die Kassenlage der Sozialversicherungen ist momentan ebenfalls hervorragend. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes betrug der Finanzierungsüberschuss im letzten Jahr 13,8 Milliarden Euro und lag damit um 10,9 Milliarden Euro höher als noch 2010. Insgesamt kamen die gesetzlichen Kranken-, Unfall- und Rentenversicherungen somit auf Einnahmen von 526,1 Milliarden Euro.
Die Einkommen der Beschäftigten sind 2011 im Schnitt um 945 Euro gestiegen, wie das Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW) zu berichten weiß. Gleichzeitig sind aber auch die Belastungen für Arbeitnehmer um durchschnittlich 553 Euro gestiegen – so stark wie seit 17 Jahren nicht mehr. Noch nie haben Arbeitnehmer so viele Steuern und Abgaben gezahlt wie im letzten Jahr. Auf rund 300 Euro beläuft sich dabei allein der Anstieg bei der Einkommenssteuer.
Dies ist weder überraschend noch dramatisch, sondern eine Folge des progressiven deutschen Steuersystems. Je mehr ein Arbeitnehmer verdient, desto höher wird er belastet. Wer hat, kann mehr geben – ein wichtiges Element dieses Systems, dem ein gesellschaftlicher Konsens zugrunde liegt. Dennoch gibt es darin einen wunden Punkt: die kalte Progression. Es kann nicht im Sinne der Gesellschaft sein, dass bei immer mehr Arbeitnehmern geringe Einkommenszuwächse zu deutlich stärkeren Reallohnverlusten führen können. Umso wichtiger ist es daher, den Hebel an der kalten Progression anzusetzen. Selbstverständlich wäre eine Korrektur der negativen Progressionseffekte mit Mindereinnahmen für den Fiskus verbunden – etwa sechs Milliarden Euro. Diese würden aber durch die künftigen Steuereinnahmen weitgehend ausgeglichen: Nach der aktuellen Steuerschätzung werden jährliche Mehreinnahmen von fünf bis sechs Milliarden Euro pro Jahr prognostiziert. Das heißt: Die Konjunktur macht es möglich, auf versteckte Steuererhöhungen zu verzichten, ohne die Sanierung des Haushaltes zu gefährden.
Ehrlichkeit tut not: Wer in Zeiten der europäischen Schulden- und Währungskrise Steuersenkungen fordert – oder gar fest verspricht –, handelt politisch und wirtschaftlich verantwortungslos. An einer echten und langfristigen Haushaltskonsolidierung führt kein Weg vorbei. Aber wenn es möglich ist, dank der von Arbeitnehmern und Steuerzahlern mit auf den Weg gebrachten, starken Konjunktur, durch eine letztlich kostenneutrale Maßnahme mehr Gerechtigkeit zu schaffen, sollte man diese Möglichkeit beim Schopfe packen.
Übrigens hat dies auch der VAA als wichtiger Teilnehmer des öffentlichen Diskurses mit seinem Antrag zur Steuerpolitik deutlich gemacht, den die VAA-Delegiertentagung im Jahr 2011 beschlossen hat. Steuergeschenke darf es auch mittelfristig nicht geben.